Hans-Joachim Heintze

Die Ausgangslage

Russland begeht mit dem Aggressionskrieg eine schwerste Völkerrechtsverletzung, denn seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 darf die Gewaltanwendung nicht länger als ein Instrument der nationalen Politik genutzt werden.

Dieses Verbot konnte bekanntlich den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern, weil dieser Vertrag keinen Mechanismus zur Durchsetzung enthielt. Diese Schwäche wurde mit der UN-Charta überwunden. Der Gründungsvertrag der Vereinten Nationen enthält wiederum das Gewaltverbot, verbindet es aber mit der Schaffung des UN-Sicherheitsrates, der als internationales Organ mit Zwangsmitteln (bis hin zur Anwendung von Waffengewalt) gegen den Rechtsverletzer einschreiten kann, um die Bedrohung oder Verletzung des Friedens zu überwinden. Zwar befasste sich der Sicherheitsrat auf Antrag der USA mit der Verurteilung der russischen Aggression, konnte aber zu keiner Zwangsmaßnahme gegen den Rechtsverletzer schreiten, weil Russland ein Veto gegen die Resolution einlegte. Das Vetorecht, offiziell als Einstimmigkeitsprinzip bezeichnet, gestattet es den fünf Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates, Resolutionsentwürfe, die ihren nationalen Interessen widersprechen, abzulehnen. Die Bestimmung privilegiert die fünf Großmächte und steht in einem Widerspruch zum Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten. Sie trägt aber dem Umstand Rechnung, dass die Staaten faktisch nicht gleich sind und dass die Großmächte aufgrund ihrer militärischen und wirtschaftlichen Stärke hinsichtlich der Bewahrung des Weltfriedens eine besondere Verantwortung tragen. Die Konstruktion des Vetorechts haben die Autoren der UN-Charta gewählt, um sicherzustellen, dass die Großmächte der Charta beitreten. Tief saß noch der Schock, dass die Vorgängerorganisation – der Völkerbund – niemals alle Großmächte der damaligen Zeit an einen Tisch gebracht hatte und auch deshalb scheitern musste. Nun haben die Großmächte von 1945 mit dem Veto eine privilegierte Stellung – mit dem Preis, dass dieses Vetorecht missbraucht werden kann. Das russische Veto zur Ukraine-Resolution ist ein solcher Missbrauch. Es zeigt sich hier einmal mehr, dass der wohldurchdachte UN-Friedenssicherungsmechanismus – nämlich kollektive Sanktionen gegen den Friedensstörer zu ergreifen – immer dann scheitern muss, wenn eine Großmacht involviert ist. Der Westen wollte dieses Schweigen der Vereinten Nationen zu einer Aggression nicht hinnehmen und strebte nun eine Verurteilung des russischen Vorgehens durch die Generalversammlung an, die kein Vetorecht kennt und wo jeder Staat, klein oder groß, über eine Stimme verfügt. Tatsächlich kam die Notstandsgeneralversammlung zustande und verurteilte mit 141 von 193 Stimmen den russischen Einmarsch. Was wie ein Erfolg aussieht, wirft für die Friedenslösung aber viele Fragen auf. Zwar hat die übergroße Mehrheit zugestimmt, aber wichtige große Staaten wie China, Indien und Brasilien haben sich der Stimme enthalten und Russland für diesen offensichtlichen Völkerrechtsbruch nicht verurteilt.

Die gesamte Situation in den Vereinten Nationen zeigt, dass Russland als UN-Sicherheitsratsmitglied eine privilegierte Stellung innehat. Es teilt diese mit den anderen Großmächten, die in der Vergangenheit bei Völkerrechtsverletzungen ebenfalls nicht durch den Sicherheitsrat mit Sanktionen belegt werden konnten. Diese Konstellation ist bei jeder Friedensinitiative zu berücksichtigen. Bedeutsam ist auch, dass die Ukraine als Opfer einer Aggression zur individuellen Selbstverteidigung berechtigt ist und dabei durch andere Staaten unterstützt werden darf, ohne dass die Unterstützerstaaten damit zu Parteien des bewaffneten Konfliktes werden. 

Der Verhandlungswaffenstillstand

Ein Verhandlungsfrieden erscheint augenblicklich nicht erreichbar, weil die russischen Kriegsziele unbekannt sind. Verschiedene Vertreter der russischen Regierung vertraten immer wieder unterschiedliche Positionen, leugneten gar die Existenz eines internationalen bewaffneten Konflikts (und verboten, von einem „Krieg“ zu sprechen). Was ist angesichts dieser Situation zu tun? 

  • Notwendig ist zunächst eine schnellstmögliche Beendigung der Gewaltanwendung. Dabei wird es keinen „strahlenden Sieger“ geben. Nach dem Konflikt werden beide Seiten eine Vielzahl menschlicher Opfer zu beklagen haben und im Konfliktgebiet eine völlig zerstörte Infrastruktur vorfinden, die weithin verseucht sein wird (Minen, Waffenreste). Hier muss ein schneller Wiederaufbau ermöglicht werden, um Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen. 
  • Die Fixierung der westlichen Politik auf die Ukraine-Aggression ist als Schockreaktion verständlich, muss aber im Interesse der Bearbeitung globaler Probleme überwunden werden. Dass ausgerechnet ein nichtdemokratischer Staat wie die Türkei Weizenlieferungen zur Überwindung der Welternährungskrise vermittelte, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Vernachlässigung wichtiger Fragen der Weltordnung durch den Westen.
  • Die vom Westen erzeugte und angestrebte Isolierung Russlands führt zu einer stärkeren Hinwendung zur Volksrepublik China. Damit verbinden sich zwei weltpolitische Schwergewichte, die das demokratische System offen ablehnen. Dies muss durch Kooperationsangebote vermieden werden. Erforderlich ist eine solche Koexistenzpolitik wie die, die 1945 die Schaffung der Vereinten Nationen ermöglichte. 
  • Die Politik spricht angesichts des Konflikts von einer „Zeitenwende“, wendet aber weiterhin das traditionelle Völkerrecht an, das von den Rechten und Pflichten der souveränen Staaten ausgeht. Dabei wird übersehen, dass das Völkerrecht der Souveränität nicht länger dazu in der Lage ist anstehende globale Probleme zu regeln. Erforderlich ist vielmehr ein Völkerrecht der Solidarität, das die Zusammenarbeit der Staaten bei der Bearbeitung globaler Herausforderungen wie des Klimawandels, des Umweltschutzes, der Pandemien, der Nutzung der Weltmeere, des Weltraums etc. regelt. Ohne die Großmächte ist ein Völkerrecht der Solidarität undenkbar, deshalb muss Russland ein Weg zur Rückkehr in die Weltpolitik eröffnet werden. Der Waffenstillstand ist der erste Schritt zur Überwindung der Isolation, in die dieser Staat durch die westlichen Sanktionen geraten ist. Dabei ist in Kauf zu nehmen, dass es sich in Russland um ein autokratisches System handelt. So hat auch die Geschichte gezeigt, dass Menschheitsprobleme wie beispielsweise der Kampf gegen Hitler nur durch die Zusammenarbeit mit dem Diktator Stalin gelöst werden konnten. 

Ein Waffenstillstand wäre ein erster Schritt in die Richtung eines Verhandlungsfriedens – gleichwohl nur ein kleiner und zaghafter, der unumgänglich ist. Die Politik muss vorsichtig vorgehen, weil die Positionen beider Seiten verhärtet sind. Deshalb sollten gesichtswahrende Regelungen zum Waffenstillstand unter Vermittlung einer dritten Partei gesucht werden. Die Übereinkunft über Getreideexporte aus ukrainischen Häfen wurde unter Vermittlung der Türkei erreicht, so dass sie sich auch für weitere Verhandlungen als neutrale Partei anbietet.

  • Die Verhandlungen erfordern eine kluge Diplomatie, die akzeptiert, dass eine Lösung der Grundfragen dieses Konfliktes im Moment nicht erreichbar ist. Anzuwenden ist daher eine Diplomatie des „agree to disagree“, die in der Hochzeit des Kalten Krieges in Bezug auf die Beziehungen zwischen der DDR und BRD angewendet wurde. Die deutsche Frage war nicht zu lösen, aber beide Seiten wollten menschliche Erleichterungen erreichen. Dies gelang mit dem Grundlagenvertrag von 1972. 
  • Die Verhandlungen müssen auf Augenhöhe stattfinden. Insbesondere ist dem in Russland herrschenden Gefühl entgegenzuwirken, dass der Westen arrogant auf das Land herabblickt und ihm seine Auffassungen aufoktroyiert. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass Russland kein Unrechtsbewusstsein zeigt und stattdessen auf westliche Rechtsbrüche zum Beispiel bezüglich des Allende-Sturzes, der Nicaragua-, Kosovo- und Irakintervention hinweist. Diesbezüglich ist deutlich zu machen, dass ein Rechtsbruch das Recht nicht aufhebt und andere nicht zum Rechtsbruch berechtigt.

Konturen eines Verhandlungsfriedens 

Der Verhandlungsfrieden wird einen längeren Zeitraum zu seiner Ausarbeitung benötigen, weil Positionen geklärt und Kompromisse zu finden sind. Erreicht werden sollte der Verhandlungsfrieden durch die Einbeziehung anderer Parteien, die für die europäische Sicherheit mitverantwortlich sind. Als Modell bietet sich der Dayton-Prozess an, auch wenn dessen Ergebnis nicht zu überzeugen vermag. Wichtig ist aber eine möglichst breite Basis für die Vereinbarung, denn es müssen schmerzhafte Kompromisse gefunden werden, die auf Einschränkungen der Souveränität der Ukraine hinauslaufen. Diskutiert werden müssen Fragen der Nichtpaktgebundenheit und des Status von Gebietsteilen, beispielsweise durch Autonomieregelungen. Sicherzustellen ist dabei insbesondere, dass die betroffenen Menschen ein Mitspracherecht erhalten, zum Beispiel durch Referenden. Zu fragen ist zudem, in welchem Umfang Russland Reparationen für die Kriegszerstörungen zu leisten hat. Auch müssen die Personen, die für Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden.

Bereits diese erste Auflistung möglicher Fragen einer Friedenslösung macht deutlich, dass es sich dabei um ein Programm handelt, das einen langen Atem benötigt und vor allem Kooperationsbereitschaft im Interesse der Bearbeitung globaler Probleme voraussetzt.

*Dieser Text erschien in: Werkner, Ines-Jacqueline et al. (Hrsg.): Wege aus dem Krieg in der Ukraine. Szenarien – Chancen – Risiken, Heidelberg: heiBOOKS, 2022 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 5).