Ines-Jacqueline Werkner
Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist von einer Zeitenwende die Rede. Diese zeigt sich auch in der Frage der Lieferung von Waffen. Galt über Jahrzehnte der Grundsatz, keine Waffen in Krisengebiete zu schicken, als oberstes Prinzip deutscher Rüstungsexportpolitik, liefert mittlerweile auch Deutschland Waffen ins ukrainische Kriegsgebiet. Dabei hat die Bundesregierung lange – und auch länger als andere westliche Staaten – mit sich gerungen, der ukrainischen Forderung nach der Lieferung nun auch schwerer Waffen nachzukommen.
Noch vor wenigen Wochen, am 22. April 2022, erklärte Olaf Scholz mit Verweis auf seinen Amtseid die deutsche Zurückhaltung in dieser Frage mit den Worten: „Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben“. Das verdeutlicht die Brisanz dieser Entscheidung. Zugleich hat die abwägende Haltung des Bundeskanzlers aber auch harsche Kritik hervorgerufen. Mit der Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine riskiere Deutschland eine Ausweitung des Krieges – und diese Gefahr sei „umso größer, je länger sich der Krieg hinzieht und je stärker die Ukraine in Bedrängnis gerät“ (Anton Hofreiter). Diese Kritik blieb ihrerseits nicht unwidersprochen. So zeigte sich beispielsweise der Philosoph Jürgen Habermas irritiert von der „Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten“ (SZ vom 29.04.2022). Was heißt es nun aber aus friedensethischer Perspektive, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern?
Ein ethisches Dilemma
Die Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung ihres Landes angesichts des russischen Angriffskrieges ist zunächst einmal völkerrechtlich unbestritten. Hier greift das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta. Erlaubt wären demnach nicht nur Waffenlieferungen, sondern auch direkte militärische Kampfhandlungen. Friedensethisch fällt die Antwort schwerer. Einerseits gebietet es die Nothilfe, bedrohte Staaten im äußersten Notfall auch militärisch zu unterstützen, „denn der Schutz des Lebens und die Stärke des gemeinsamen Rechts darf gegenüber dem ‚Recht des Stärkeren‘ nicht wehrlos bleiben“ (EKD-Friedensdenkschrift). Andererseits gilt es aber auch, die Verhältnismäßigkeit der Folgen zu bedenken. Der Gewaltgebrauch darf nicht zu einer „Herbeiführung eines noch größeren Übels“ führen. Vor diesem Hintergrund schließen die NATO-Staaten eine direkte Beteiligung an Kampfhandlungen in der Ukraine aus; die Gefahr eines dritten Weltkrieges wäre zu hoch. Dieser Grundsatz, nicht selbst Kriegspartei zu werden, ist somit keine völkerrechtliche Grenze, sondern eine Form der Selbstbeschränkung und damit – so Jürgen Habermas – eine „Grenze, die wir uns selbst auferlegt haben“.
Bei der politisch wie öffentlich kontrovers geführten Debatte um die Lieferung von schweren Waffen kommen beide friedensethischen Argumente zum Tragen. Das zeigen auch die beiden offenen Briefe an Olaf Scholz – ein erster von einer Gruppe um Alice Schwarzer, die vor Waffenlieferungen warnt, und ein zweiter um den Publizisten Ralf Fücks, der konträr dazu für kontinuierliche Waffenlieferungen an die Ukraine plädiert. Ethisch handelt es sich hierbei um eine Dilemmasituation mit zwei konkurrierenden normativen Zielsetzungen:
Das eine Ziel besteht darin, die Ukraine darin zu unterstützen, ihre Freiheit, ihr Leben und ihre Souveränität zu verteidigen. Angesichts des aktuellen Kriegsgeschehens sollen schwere Waffenlieferungen genau dazu beitragen. Zugleich lässt sich mit Jürgen Habermas aber auch fragen, ob „es nicht ein frommer Selbstbetrug [ist], auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegsführung zu setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen“.
Das andere Ziel liegt in der Vermeidung einer militärischen Eskalation, die zu einem dritten Weltkrieg und Nuklearkrieg führen kann. Wer sich gegen schwere Waffenlieferungen ausspricht, hat – auch angesichts der Erfahrungen des Kalten Krieges – diese normative Zielsetzung im Fokus. Aber auch hier können die Konsequenzen dramatisch sein: Die Ukraine angesichts von Kriegsverbrechen ihrem Schicksal zu überlassen, wäre eben nicht nur moralisch verwerflich, es könnte Putin auch dazu ermutigen, seine russischen Großreichphantasien weiter zu verfolgen. Moldawien, Georgien oder gar östliche NATO-Staaten könnten das nächste Ziel russischer Angriffe sein.
Die Konsequenzen beider Wege lassen sich nicht vorhersehen, denn Putin besitzt die alleinige Eskalationsdominanz. Er allein bestimmt Zeit und Grad der militärischen Verschärfung des Krieges.
Wird der Westen zur Kriegspartei?
Angesichts dieser Konstellation besteht im Westen der Konsens, die Ukraine zu unterstützen, ohne selbst Kriegspartei zu werden. Waffenlieferungen gehen mit dieser Selbstbeschränkung einher. Nach dem Rechtsstatus der Nichtkriegsführung (non-belligerency) sind Vertragsparteien gegenüber einem Aggressor nicht mehr an ihre Neutralität gebunden, womit finanzielle und materielle Unterstützungsleistungen für den angegriffenen Staat möglich werden. In diesem Sinne nimmt – so das Ergebnis eines Gutachtens des Deutschen Bundestages – der Westen mit seinen Waffenlieferungen eine zwar „nicht-neutrale, gleichwohl aber am Konflikt unbeteiligte Rolle“ ein.
Macht es nun einen Unterschied, leichte oder schwere Waffen zu liefern? Eindeutige Definitionen, was unter leichten und schweren Waffen zu verstehen ist, gibt es nicht. Orientiert man sich am Arms Trade Treaty (ATT), einem multilateralen Vertrag, der den internationalen Handel mit konventionellen Waffen regelt, gehören zu den großen – und damit auch schweren – Waffen verschiedene Kategorien von Waffensystemen: Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, großkalibrige Artilleriesysteme, Kampfflugzeuge, Angriffshubschrauber, Kriegsschiffe sowie Flugkörper und Abfeuereinrichtungen für Flugkörper. Demgegenüber stehen Kleinwaffen und leichte Waffen. Kleinwaffen können von einer Person bedient werden (z.B. Gewehre, Maschinenpistolen, Handgranaten); leichte Waffen bedürfen der Bedienung mehrerer Personen (z.B. Mörser, tragbare Raketenwerfer, schwere Maschinengewehre).
Im Humanitären Völkerrecht ist eine derartige Unterscheidung nicht verankert; so ist es völkerrechtlich völlig unerheblich, wie schwer oder leicht die Waffen sind, die als Unterstützungsleistung dem angegriffenen Staat geliefert werden. Das trifft ebenso für die wie auch immer geartete Unterscheidung von defensiven und offensiven Waffen zu. Und auch der Umfang der Waffenlieferungen ist rechtlich irrelevant. Eine qualitativ neue Stufe stellen allerdings Waffensysteme dar, deren Lieferung mit der Einweisung und Ausbildung ukrainischer Soldaten einhergeht (Gutachten des Deutschen Bundestages). Hierbei handelt es sich um eine völkerrechtliche Grauzone zwischen Nichtkriegsführung und Konfliktteilnahme. Das betrifft aber nicht nur die sogenannten schweren Waffen, sondern auch die Übermittlung von Geheimdienstinformationen sowie Informationen der Luftaufklärung durch AWACS-Aufklärungsflugzeuge.
Was ist das Ziel westlicher Waffenlieferungen?
Ein weiterer zentraler Punkt ist die Frage nach dem Ziel westlicher Waffenlieferungen. Eine erste Antwort lautet: die Unterstützung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit. Was heißt dies aber konkret? Hier lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Zielsetzungen ausmachen: Für die einen dienen westliche Waffenlieferungen dazu, das Kosten-Nutzen-Kalkül des russischen Angriffskrieges so zu verändern, dass es zu einem Waffenstillstand kommt – ein Waffenstillstand als Ausgangspunkt für Verhandlungen, die klären, wie die russischen Truppen abziehen und die territoriale Integrität der Ukraine wieder hergestellt werden kann. Voraussetzung dafür ist der Wille auf beiden Seiten. Hier könnten westliche Waffenlieferungen – neben anderen Maßnahmen wie Sanktionen oder auch diplomatische Anstrengungen – die Ausgangsbedingungen entsprechend beeinflussen. So hängen das Zustandekommen eines Waffenstillstandes und Verhandlungsergebnisse wesentlich auch davon ab, welche Kräfteverhältnisse zu jenem Zeitpunkt vorherrschen. Friedensverhandlungen stellen letztlich aber immer auch Kompromisse dar und basieren auf „gesichtswahrenden“ Lösungen.
Andere dagegen zielen mit schweren Waffenlieferungen auf eine unmittelbare militärische Lösung des Krieges. So begründete auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell seinen Appell an die EU-Staaten, schwere Waffen zu liefern, damit, dass der Ukrainekrieg auf dem Schlachtfeld entschieden werde. Hier bestimmen dann auch Kategorien von Sieg und Niederlage die Debatte: „Die Ukraine muss gewinnen!“. Was kann hier aber gewinnen heißen? Geht es um die Zurückdrängung der russischen Truppen hinter die Frontlinie vom 23. Februar 2022, um die Befreiung des Donbass von der Herrschaft prorussischer Separatisten oder um die Zurückeroberung der Krim? Und wäre der Westen bereit, mit seiner Lieferung schwerer Waffen auch Angriffe auf das russische Territorium zu unterstützen (beispielsweise um den logistischen Nachschub der russischen Truppen zu stoppen)? Russische Tanklager waren bereits das Ziel ukrainischer Angriffe. Was hieße es, wenn diese Angriffe auch die russische Zivilbevölkerung träfen? Vom Ende her gedacht wird Putin alles tun, diesen Krieg militärisch nicht zu verlieren. Sollte ihm dies nicht mit konventionellen Waffen gelingen, bliebe ihm noch der Einsatz chemischer oder (taktischer) atomarer Waffen.
Wie sich die Ukraine gegenüber dem russischen Angriff verteidigt und was ihre konkreten Ziele dabei sind, obliegt ausschließlich der Ukraine. Dennoch ist der Westen mit seiner massiven Lieferung auch schwerer Waffen an die Ukraine gefordert, seine Zielsetzungen zu bestimmen. Das Lavieren zwischen unpräzisen und sehr interpretationsoffenen Aussagen wie „Die Ukraine muss gewinnen!“, „Die Ukraine darf nicht verlieren!“ oder „Russland darf nicht gewinnen!“ verweist letztlich auf Divergenzen, die es innerhalb der Europäischen Union gibt: zwischen den Balten und Osteuropäern auf der einen und Staaten wie beispielsweise Deutschland und Frankreich auf der anderen Seite (vertiefend hierzu auch die ZEIT vom 19. Mai 2022). Sie sind letztlich Ausdruck des Versuchs, das ethische Dilemma zwischen Verteidigung der Ukraine und Vermeidung einer möglichen Eskalation in die eine oder andere Richtung aufzulösen.
*Dieser Text erscheint in: Werkner, Ines-Jacqueline et al. (Hrsg.): Krieg in der Ukraine. Hintergründe – Positionen – Reaktionen, Heidelberg: heiBOOKS, 2022 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 4).