Stefan Oeter

Vorbemerkung

Das völkerrechtliche Normengefüge schränkt politische Handlungsspielräume ein – das ist das »Proprium« des Rechts, im Völkerrecht wie im Verfassungsrecht. Dass diese normativen Einschränkungen politischer Handlungsspielräume in der Praxis akzeptiert werden, ist ganz und gar nicht trivial.

Stark politisch geprägte Normengefüge wie Verfassungsordnungen oder völkerrechtliche Regime scheitern immer wieder daran, dass die soziale Praxis bestimmte normative Anforderungen nicht annimmt und in der Folge als handlungsleitende Vorgaben respektiert. Das Problem zeigt sich in besonderer Deutlichkeit gegenwärtig auch beim System der UN-Charta. Die liberale Völkerrechtsordnung der UN-Charta steht an einem Scheideweg – wird sie von der Mehrzahl der Mitgliedsstaaten nicht mehr als notwendig bejaht und gegenüber fundamentalen Anfeindungen verteidigt, so gerät ihr sozialer Geltungsanspruch in Verfall. Konkurrierende »Normunternehmer« könnten dann alternative Vorstellungen einer »neuen« normativen Ordnung erfolgreich durchsetzen.

Der Krieg in der Ukraine erweist sich unter dieser Perspektive als eine Wegscheide in der neueren Entwicklungsgeschichte des Völkerrechts. Gelingt es nicht, die tragenden Prämissen der Friedensordnung, wie sie im Gefolge der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mit der UN-Charta etabliert wurde, gegenüber den fundamentalen Anfeindungen zu behaupten, die mit dem russischen Vorgehen in der Ukraine offensichtlich geworden sind, so wird diese Ordnung weiter erodieren. Es wird etwas Neues an deren Stelle treten – ein Ordnungssystem, das Vorstellungen auch christlicher Friedensethik zutiefst widerspricht. Die folgenden Überlegungen werden in der Auseinandersetzung mit den zu Beginn des Bandes skizzierten Szenarien aufzeigen, dass der Krieg in der Ukraine unter der normativen Perspektive des Völkerrechts nur auf ganz bestimmten Pfaden sinnvoll bearbeitet werden kann, will man diese Völkerrechtsordnung nicht aufgeben. Ein Großteil der eigentlich (theoretisch denkbaren) Szenarien des Umgangs mit dem Konflikt bzw. der sinnvollen Beendigung erweisen sich entweder als realpolitisch zutiefst unwahrscheinlich oder als normativ nicht gangbar. Natürlich lässt sich nicht ausschließen, dass die politische Praxis sich letztlich aus ihren Dilemmata heraus für Optionen entscheidet, die mit dem gegenwärtigen Normensystem nicht vereinbar sind – dies würde dann allerdings bedeuten, dass man sehenden Auges vom bestehenden Normensystem Abschied nimmt. Der Text hat insoweit eine starke Prämisse, die politisch nicht selbstverständlich ist – er unterstellt ein starkes Interesse an der Bewahrung der bestehenden Völkerrechtsordnung, die in einer evolutionären Perspektive der Entwicklung der normativen Ordnung als zivilisatorische Errungenschaft gesehen wird. Hält man dagegen – um es in der Diktion von Carl Schmitt auszudrücken – eine »Großraumordnung mit Interventionsverbot raumfremder Mächte« für die gegenwärtige Struktur der Staatenwelt angemessener, wie das Putin-Regime, so wird man für die Bewahrung der gegenwärtigen Ordnung keinen Blutstropfen vergießen wollen.

Die folgenden Überlegungen werden sich – bei aller Problematik solcher Szenarienbildung – an den obigen sechs skizzierten Szenarien abarbeiten, mit dem Befund, dass die eigentliche Diskussion des Lösungsraums im Kern zwischen zwei Szenarien stattfinden wird – ein Szenario (Szenario 3), das politisch durchaus attraktiv sein könnte, normativ aber die Axt an die bestehende Friedensordnung der UN-Charta legt, während das alternative Szenario 5 zwar die normativen Vorgaben respektiert, politisch aber sehr dornenreich sein wird und den beteiligten Staaten sehr viel an Zumutungen abfordern wird.

Die realpolitisch eher unwahrscheinlichen Szenarien

Szenario 1 – Putin gewinnt den Krieg – wäre aus völkerrechtlicher Sicht das Worst-Case-Szenario. Das Ergebnis eines solchen Erfolgs des brutal alle Grundprinzipien der UN-Charta negierenden Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine wäre eine fundamentale Bestreitung der Prämissen der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung. Der russische Angriffskrieg missachtet nicht nur ganz offen das Gewaltverbot des Art. 2 (4) der UN-Charta, sondern auch die Grundprinzipien der territorialen Integrität und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Nun sind Angriffshandlungen gegen fremde Staaten unter Missachtung des Gewaltverbotes kein ganz unbekanntes Phänomen in den internationalen Beziehungen – man denke nur an den Irakkrieg 2003. Damals waren die US-amerikanischen Rechtfertigungsversuche ähnlich bemüht wie heute die russischen Rechtsfertigungsnarrative, inhaltlich so an den diskursiven Kategorien des modernen Völkerrechts vorbei, dass sie vergleichbar an der Lächerlichkeitsgrenze schrammten wie jetzt die Moskauer Parodien völkerrechtlicher Argumentation. Doch das russische Vorgehen reicht weit über eine offene Missachtung des Gewaltverbots hinaus. In seiner frontalen Leugnung des Existenzrechts der ukrainischen Nation bestreitet das Putin-Regime, dass den Bewohnerinnen und Bewohnern der Ukraine überhaupt als Nation ein Recht der kollektiven Selbstbestimmung zukomme. Letzten Endes wäre es nach dieser Lesart die Geschichtsteleologie des russischen Präsidenten Putin, die das Schicksal der Ukraine zu bestimmen hat, und nicht der Wille des ukrainischen Volkes, das die streitigen Gebiete bewohnt. In seiner Affinität zu Carl Schmitt’schen Kategorien der Großraumordnung mit Interventionsverbot raumfremder Mächte handelt es sich im Kern um ein koloniales Ordnungskonzept, vergleichbar der nationalsozialistischen Völkerrechtskonzeption, einschließlich der rassistischen Konnotation eines »Herrenvolks«, dem ein quasi-naturrechtliches Recht auf Beherrschung »minderwertiger« Völker zusteht. Der Sieg dieses alternativen Ordnungskonzepts wäre der Todesstoß für die bisherige Friedensordnung, wie sie in der UN-Charta ihren Ausdruck gefunden hat. Aus der Perspektive eines kantianisch grundierten Völkerrechts wäre dieses Szenario eine Katastrophe – glücklicherweise ist dessen Eintritt aber eher unwahrscheinlich. Putin hat sich im Blick auf die militärischen Potenziale wie den Widerstandswillen des ukrainischen Volkes, aber auch in puncto Einheit des Westens fatal verkalkuliert und wird seine ursprünglichen Kriegsziele aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr erreichen können – unter der Voraussetzung, die ukrainische Gegenwehr wird vom Westen auf Dauer weiterhin so stark unterstützt wie in den letzten Monaten.

Szenario 2 – die Ukraine gewinnt den Krieg – wäre aus Sicht des Völkerrechts das Best-Case-Szenario, dieses ist allerdings realpolitisch wie militärisch ebenfalls eher unwahrscheinlich. Aus der Perspektive des Völkerrechts wäre es das optimale Ergebnis, da es letztlich auf eine Wiederherstellung des Status quo ante hinausliefe – und »ante« meint hier die Lage vor 2014. Der dreiste Aggressionsakt wäre gescheitert – wie letztlich die historisch wohl einzig vergleichbaren Akte offener Aggression mit der Absicht gewaltsamen Gebietserwerbs, der Überfall des Saddam-Hussein-Regimes auf den Iran 1981 und die Annexion Kuwaits 1990. Die territoriale Integrität der betroffenen Staaten wäre im Ergebnis gewahrt, das Selbstbestimmungsrecht wäre siegreich aus der Anfechtung hervorgegangen. Leider ist dieses Szenario in realpolitischer Perspektive aber nicht sehr wahrscheinlich – angesichts der vorhandenen Asymmetrien der militärischen Potenziale und der an vielen Stellen dann doch eher halbherzigen Unterstützung der Uk raine durch den Westen.

Ähnlich unplausibel ist Szenario 4, der Eintritt eines regime change in Russland. Normativ wäre ein solcher Regimewechsel durchaus wünschenswert, handelt es sich bei der russischen Führung doch um ein »Joint Criminal Enterprise« im Sinne des Völkerstrafrechts, die sich so ziemlich aller denkbaren völkerrechtlichen Verbrechen aus dem Katalog des Römischen Statuts schuldig gemacht haben, unter zynischer Verhöhnung dieser normativen Ordnung, deren grundlegende Verträge man einst alle unterschrieben hat. Leider ist ein solcher Regimewechsel aber in realpolitischer Perspektive höchst unwahrscheinlich. Das Regime der »Silowiki«, der ehemaligen KGBFunktionäre, hat einen überaus effizienten Repressionsapparat aufgebaut, der jeden Ansatz eines Umsturzes im Keim zu ersticken vermag. Auch Risse innerhalb des Gefüges der herrschenden Elite in Moskau sind nicht so recht auszumachen. Und selbst wenn es zu einem Umsturz gegen Putin käme, wäre es alles andere als sicher, dass die neue Führung andere Prämissen über die erstrebenswerte Stellung Russlands als Nachfolger der Sowjetunion oder auch eine andere Einstellung zur Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele hätte.

Szenario 6 – Eskalation zu einem offenen Krieg mit den NATO-Staaten, unter Umständen mit dem Einsatz von Nuklearwaffen – ist glücklicherweise auch eher unwahrscheinlich. Die NATO-Staaten bemühen sich sehr skrupulös, bestimmte »rote Linien« nicht zu überschreiten – und auch Russland scheint dies bislang davon abzuhalten, den Konflikt zu eskalieren. Zwar lässt sich eine ultimative Flucht nach vorne in die nukleare Eskalation nicht definitiv ausschließen. Sie hätte allerdings selbstmörderische Züge und wäre insofern bei einer unterstellten Grundrationalität der russischen Führung nicht allzu wahrscheinlich. Der Effekt des offenen Drohens mit dem (Erst-)Einsatz von Nuklearwaffen ist allerdings eine nachhaltige Delegitimierung der bisherigen Nuklearordnung mit der zugrundeliegenden kategorialen Unterscheidung von etablierten Nuklearmächten und Nichtkernwaffenstaaten. Erweisen sich im Ergebnis auch die tradierten Nuklearmächte als im Kern unverantwortlich, wie jetzt tendenziell Russland, so verliert die Grundunterscheidung des Nonproliferations-Regimes ihre Legitimation. Anstatt auf die Option des Global Zero zuzusteuern, droht dann mittelfristig das Regime der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen zu erodieren – das Letzte, was wir uns wünschen sollten.

Frieden durch Verhandlung und Kompromiss

Ein Verhandlungsfrieden mit Gebietsabtretungen im Stile klassischer Friedensverträge (wie etwa des Vertrages von Versailles und der anderen Pariser Vorortverträge) mag politisch verlockend sein als Option, es ist ein unter Kautelen des gegenwärtigen Völkerrechts jedoch kaum gangbarer Weg. Politisch verlockend könnte ein solcher Weg für Teile des Westens sein, da so ohne weiteres (kostspieliges) Engagement und den Preis, den das Embargoregime gegen Russland auf Dauer kostet, die Waffen (zumindest vordergründig) zum Schweigen gebracht werden könnten – und der Westen sich wieder in die Bequemlichkeit einer Ruhe versprechenden »europäischen Friedensordnung« zurückfallen lassen könnte. Diese »Friedensordnung« zu russischen Bedingungen wäre allerdings nicht wirklich belastbar, wie die mehrfache russische Aggression gezeigt hat. Solange Russland angriffsfähige militärische Potenziale hat, geht von ihm eine Gefahr für die Staaten Europas aus, denn die russische Führung verachtet das Normensystem der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung und ist jederzeit bereit, Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele einzusetzen.

Noch weit schlimmer aber wäre der Preis, den die Völkerrechtsordnung für einen Verhandlungsfrieden zu zahlen hätte, in dem man das Ruhen der Waffen mit der Absegnung russischer Raubzüge bezahlen würde. Russland hält bislang an seinen maximalistischen Kriegszielen fest und würde bei Verhandlungen zunächst darauf beharren, über einen Regimewechsel in Kiew die Ukraine zu einem Satrapenstaat unter russischer Hegemonie zu machen – ein Ergebnis, das zutiefst der Grundnorm des Selbstbestimmungsrechts der Völker widerstreiten würde. Doch selbst wenn Russland von diesem Maximalziel Abstand nähme und sich mit Gebietsabtretungen größeren Umfangs zufriedengeben würde – im Kern der Krim, dem Donbass und wahrscheinlich auch der ukrainischen Schwarzmeerküste –, so liefe dieses Ergebnis auf eine völkerrechtliche Akzeptanz des mit roher Gewalt geschaffenen Fait accompli hinaus. Eine solche vertragliche Absegnung des gewaltsamen Gebietserwerbs würde jedoch einem zentralen Grundpfeiler der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung widersprechen, der Ächtung jeglicher Form gewaltsamer Gebietsveränderung, abgesichert durch die Politik strikter Nichtanerkennung gewaltsamen Gebietserwerbs (in Form der sogenannten Stimson-Doktrin). Bei diesem Tabu gewaltsamer Gebietsveränderung handelt es sich um eine der ganz zentralen zivilisatorischen Errungenschaften der Völkerrechtsentwicklung der letzten hundert Jahre. Der Aggressor würde für seinen Gewaltakt belohnt – was im Blick auf den jus cogens-Charakter des Gewaltverbots völlig inakzeptabel wäre und im Ergebnis die Axt an die Friedensordnung des UN-Systems legen würde. Zudem wäre jegliche vertragliche Konzession der Ukraine, die unter Einsatz von Gewalt erpresst worden ist, nach dem normativen Rahmen der Wiener Vertragsrechtskonvention null und nichtig – rechtlich wäre ein durch Gewalt abgepresster Friedensvertrag also eine schwärende Wunde, ein auf Dauer gestelltes völkerrechtliches Delikt, das normativ in keiner Weise stabil ist.

Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Idee eines Verhandlungsfriedens, in dem die Ukraine notgedrungen Konzessionen an Russland machen müsste, in völkerrechtlicher Perspektive eigentlich ein Tabu darstellt – solange Russland nicht bereit ist, in einem Friedensvertrag die Rückkehr zum Status quo ante zu versprechen und die mit Gewalt geraubten Gebiete wieder an die Ukraine zurückzugeben. Eine Bereitschaft zu einem derartigen Friedensvertrag mit völkerrechtskonformen Modalitäten ist aber in Moskau nicht zu erkennen – und wohl auch auf längere Sicht nicht zu erwarten. Man sollte dementsprechend aufhören, von Optionen eines Verhandlungsfriedens zu schwadronieren, die letztlich das völkerrechtliche System der Friedenssicherung schwer beeinträchtigen, wenn nicht gar zerstören würden.

»Einfrieren« des Konflikts

In der Zusammenschau von realpolitischer Sicht und völkerrechtlichen Anforderungen bleibt letzten Endes nur ein Szenario als wirklich gangbar zurück – das im Ausgangspapier als Szenario 5 beschriebene » Einfrieren « des Konflikts. Politisch ist das eine eher hässliche Option, da sie auf absehbare Zeit auf eine Fortsetzung des Krieges in Form eines relativ statischen Zermürbungskrieges hinauslaufen wird, mit dem Bedarf an massiver militärtechnischer Unterstützung der Ukraine und der Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen Russland. Erst wenn beide Seiten erschöpft genug sind und in der Fortsetzung der offenen Kampfhandlungen keine Chancen auf Gewinne mehr sehen, wird es überhaupt eine Bereitschaft zum Einfrieren des Konfliktes geben. Dieses Einfrieren wird die Kampfhandlungen nicht wirklich beenden, sondern – wie in den sogenannten frozen conflicts des postsowjetischen Raumes üblich –, die Intensität der Kampfhandlungen nur auf ein deutlich geringeres Maß heruntermoderieren. Die Ukraine hat im Übrigen schon acht Jahre Erfahrung mit diesem Zustand, in Form des (mehr als brüchigen) Waffenstillstands unter den Minsk-Vereinbarungen. Menschen werden auch in diesem eingefrorenen Konflikt weiter sterben, und er wird beiden Seiten auf Dauer abverlangen, erhebliche Ressourcen in ihre militärischen Potenziale zu investieren. Zudem wird ein solcher frozen conflict auch die faktische Gebietsherrschaft Russlands über erhebliche Teile der Ukraine zementieren.

Gleichwohl ist ein solches Einfrieren, typischerweise in Form eines (mehr oder weniger brüchigen) Waffenstillstands, politisch wie normativ erstrebenswert, da er zumindest dem Horror der Gräueltaten des mit besonderer Grausamkeit und Härte geführten Krieges weitgehend ein Ende bereiten würde – eines Krieges, dessen Modus Operandi auf russischer Seite ein erschreckendes Ausmaß an nihilistischer Leugnung aller humanitären Standards und letztlich an krimineller Energie erkennbar werden lässt. Die von Russland eroberten Gebiete blieben im Fall des Einfrierens rechtlich ein Fall der »militärischen Besetzung«, wenn auch Russland (wie vorher schon im Donbass) diesen Status mit seiner »Volksrepublik«-Scharade zu kaschieren suchen würde. De jure blieben die besetzten Gebiete völkerrechtlich weiter der Ukraine als territorialem Souverän zugeordnet und wären als »besetzte Gebiete« mit erheblichen Einschränkungen in der Nutzbarkeit durch Russland versehen – wenn auch Russland in seiner Praxis des Umgangs mit den besetzten Gebieten diese Beschränkungen systematisch missachtet. Die Versorgung dieser Gebiete, deren Wirtschaft weitgehend zusammengebrochen ist, hinge am Tropf des russischen Staatshaushalts und würde die erwartbar immer prekärer werdenden Finanzen Russlands auf Dauer erheblich belasten. Russland würde jedenfalls auf mittlere Sicht ein »Paria« der Staatengemeinschaft bleiben und müsste sich (wie bislang schon der Iran) in einem Provisorium mit stark eingeschränktem Zugang zu den internationalen Märkten einrichten – ein unerquicklicher Zustand, der mittel- bis langfristig Druck aufbauen würde, den Konflikt irgendwann zu beenden und die Folgen konstruktiv zu bereinigen.

Nachbemerkung

Die vorstehenden Überlegungen mögen bei der Lektüre reichlich düster wirken, laufen sie doch darauf hinaus, es gebe im Kern nur einen – zugleich realpolitisch wie normativ gangbaren – Weg, der jedoch im Ergebnis keinen wirklichen Ausweg aus dem Leid dieses Krieges aufzeigt. Die meisten der Szenarien sind realpolitisch mit nur sehr geringen Wahrscheinlichkeiten des Eintritts versehen. Politisch dürfte sich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera stellen – einem Verhandlungsfrieden, der beim gegenwärtigen Stand der Dinge allzu sehr die Züge eines Diktatfriedens von Russlands Gnaden trüge, und der Option eines Einfrierens des Konflikts mittels eines Waffenstillstands. Die erste Option erweist sich als normativ nicht gangbar, da sie zentralen Grundaxiomen unserer Völkerrechtsordnung widerspräche und letztlich auf eine Selbstaufgabe der völkerrechtlichen Friedensordnung hinausliefe, wie sie im Gefolge des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde (unter tatkräftiger Beteiligung der Sowjetunion). Die Gegenoption des – nur vorübergehenden – Einfrierens läuft faktisch auf eine Fortsetzung des Krieges bis zur beiderseitigen Erschöpfung hinaus, wird auch dann der Gewalt kein wirkliches Ende bereiten, die Intensität der Gewalt nur heruntermoderieren, und muss für längere Zeit das Unrecht, das in der völkerrechtswidrigen Besetzung ukrainischer Gebiete liegt, zunächst einmal hinnehmen.

All das ist hässlich – aber ich fürchte, es führt kein Weg an diesem Szenario vorbei. Völkerrechtlich hat das Szenario des Einfrierens den Charme, dass keine vollendeten Fakten geschaffen werden, vielmehr das Unrecht – deutlich als Unrecht gebrandmarkt – wie eine schwärende Wunde offengehalten wird, die erst nach längerem Zeitablauf unter veränderten Umständen wirklich geheilt werden kann. Leider können derartige Provisorien eingefrorener Gebietsstreitigkeiten sehr lange Bestand haben – man denke an das Schicksal der von Israel besetzten palästinensischen Gebiete, deren völkerrechtlich problematische Besetzung nun schon über 50 Jahre andauert, oder an die marokkanische Besetzung der Westsahara und die bis heute ungelöste Kaschmirfrage. So unbefriedigend diese allzu lange schon andauernden Provisorien einer immer weiter als Unrecht skandalisierten Vorenthaltung des Selbstbestimmungsrechts auch sein mögen, ist schwer zu erkennen, wie die Staatengemeinschaft um einen solch leidvollen Prozess des »Durchwurstelns« im Angesicht eklatanten Unrechts herumkommen sollte, ohne ihre zugrundeliegenden normativen Ansprüche aufzugeben.

*Dieser Text erschien in: Werkner, Ines-Jacqueline et al. (Hrsg.): Wege aus dem Krieg in der Ukraine. Szenarien – Chancen – Risiken, Heidelberg: heiBOOKS, 2022 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 5).