Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt

Folge 10: Kasachstan

Magdalena Chlopecka*

© PXMedia/shutterstock.com

Kasachstan befindet sich in einer geopolitischen Zwickmühle, gefangen zwischen dem Wunsch nach engen Beziehungen zu Russland und dem Bedürfnis nach Unterstützung durch den Westen. An der Grenze zu Russland gelegen unterhält es enge wirtschaftliche Beziehungen zum russischen Nachbarn.

Wie schon zuvor enthielt sich Kasachstan auch bei der jüngsten Resolution der UN-Generalversammlung vom 23. Februar 2023, die das völkerrechtswidrige Verhalten Russlands verurteilt und Russland zum Abzug seiner Truppen aus der Ukraine auffordert. Diese Entscheidung war ein politischer Schachzug, der es Kasachstan ermöglicht, eine neutrale Position zu wahren und gleichzeitig seine Beziehungen zu Russland nicht zu gefährden.

Die Herausforderungen der Neutralität: Kasachstan zwischen Russland und dem Westen

Kasachstan ist reich an Rohstoffen, vor allem Öl- und Gasvorkommen sowie seltene Erden und Uran. Fast 60 Prozent des Staatshaushalts stammen aus Öleinnahmen, was die Wirtschaft anfällig für Preisschwankungen und Finanzschocks macht. So haben auch die Sanktionen gegen Russland Einfluss auf die kasachische Wirtschaft und die Lebensqualität der Bevölkerung. Das Land hat sich aufgrund seiner geografischen Nähe und durch seine vorhandenen Ressourcen als wichtiger Akteur auf den globalen Märkten etabliert. Die gestiegene Nachfrage – auch aus Europa – nach Öl, Gas, Lebensmitteln und Metallen hat dazu geführt, dass Kasachstan seinen Export in diesen Bereichen deutlich steigern konnte und von der gestiegenen Nachfrage profitiert. Bereits in den letzten Jahren hat Kasachstan seine Infrastruktur verbessert und seine Transportwege in Richtung Europa ausgebaut, um seinen Erdöl- und Gasexport zu diversifizieren. Zu beobachten ist eine Intensivierung der Beziehungen zwischen Kasachstan und der Europäischen Union. Dafür steht unter anderem der jüngste Besuch des Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel und der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock Ende Oktober 2022. Beispielsweise hat Kasachstan auch im Januar 2023 mit Deutschland vereinbart, seine Ölexporte in das Land zu steigern, um russisches Öl zu ersetzen, das nun von vielen europäischen Märkten ausgeschlossen ist. Außerdem plant Kasachstan, sein reichhaltiges Potenzial an Kohlenwasserstoffen zu nutzen. Das Land beabsichtigt, diese Ressourcen auf dem globalen Markt zu vermarkten, um seine Exporte zu steigern und seine Wirtschaft weiter auszubauen. Es plant, seine Rohstoffe auch in Zukunft verstärkt in den Westen zu exportieren. 

Kasachstan unterhält aber auch enge wirtschaftliche Beziehungen zu Russland, insbesondere im Energiebereich. Russland ist der größte Handelspartner Kasachstans und ein wichtiger Lieferant von Rohstoffen und Energieträgern. Während Kasachstan vor allem Gas und raffinierte Produkte wie Benzin und Diesel aus Russland importiert, exportiert es Rohöl, Uran und andere Rohstoffe nach Russland. Insbesondere der „Kasachstan-Russland-Transport-Korridor“ spielt dabei eine wichtige Rolle. Dieser Korridor ermöglicht den Transport von Waren und Gütern zwischen beiden Ländern und erleichtert den Zugang zu Häfen im Kaspischen Meer, was den Export von Energieprodukten nach Europa erleichtert. 

Allerdings haben der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Sanktionen gegen Russland auch Auswirkungen auf die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Kasachstan und Russland. Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew unternahm seine erste Auslandsreise nach seiner Wiederwahl am 21. November 2022 nach Moskau. Während dieses Besuches schlug die russische Regierung ein trilaterales Gasabkommen zwischen Russland, Kasachstan und Usbekistan vor, um einen Mechanismus für den Transport von Erdgas zwischen den drei Ländern zu schaffen. Trotz des verlockenden Vorschlags blieb Kasachstan zurückhaltend und entschied sich, den Vorschlag zu prüfen, so dass das Schicksal dieser potenziellen trilateralen Union in der Schwebe blieb. Letztlich versucht die kasachische Regierung, zwischen Russland und dem Westen zu balancieren. Sie betont die Wichtigkeit der Zusammenarbeit mit Russland, möchte aber auch gute Beziehungen zum Westen aufrechterhalten. Um Sekundärsanktionen zu vermeiden, arbeitet Kasachstan eng mit dem US-Finanzministerium zusammen. In diesem Kontext betonte der kasachische Außenminister Muchtar Tileuberdi, dass sein Land Russland nicht bei der Umgehung westlicher Sanktionen helfen werde.

Kasachstan nach den Unruhen: Auswirkungen auf die Innen- und Außenpolitik

In Kasachstan herrschte kurz nach dem Jahreswechsel 2022 ein aufgewühltes Klima, als heftige Unruhen im ganzen Land ausbrachen, ausgelöst durch eine Verdopplung der Flüssiggaspreise. Die Proteste griffen wie ein Lauffeuer auf alle großen Städte über. Zunächst demonstrierten die Menschen gegen die Preiserhöhungen für Flüssiggas, doch später forderten sie auch politische Reformen. Der Einsatz von Sicherheitskräften und Verhaftungen stoppten die Unruhen nicht. Daraufhin bat der kasachische Präsident Tokajew in einer beispiellosen Aktion das von Russland dominierte Militärbündnis, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), um Hilfe. Innerhalb weniger Tage waren dann mittels massiver Gewaltanwendung der ausländischen Truppen Ruhe und Ordnung wiederhergestellt. Die blitzschnelle militärische Intervention schlug hohe Wellen in der Bevölkerung und veränderte das Bild, das viele von der OVKS hatten, die einst als symbolisches Bündnis abgetan wurde (Radio Free Europe/ Radio Free Liberty 2022). Es war das erste Mal, dass die OVKS Truppen zur Unterstützung eines Mitgliedsstaates entsandte. Das 1992 gegründete Militärbündnis, ein Zusammenschluss ehemaliger Sowjetrepubliken, dient der kollektiven Sicherheit in der Region. Bislang hatte die OVKS nur diplomatische Maßnahmen ergriffen, um Konflikte zu lösen. Die Entsendung von Truppen nach Kasachstan markiert eine Wende in der Vorgehensweise des Bündnisses.

Mit der Entscheidung, Kasachstan militärisch zu unterstützen, beabsichtigte Russland, seine Rolle als Bündnispartner und Garant für die Sicherheit des Landes zu stärken. Damit sollte auch die Treue der kasachischen Regierung gegenüber Russland abgesichert werden. Dementsprechend erwartete Russland bei seinem Einmarsch in die Ukraine auch die Unterstützung seines Verbündeten Kasachstan. Der russische Angriff hat Kasachstan jedoch dazu bewegt, seine Beziehungen zu überdenken, sich gegenüber Russland zurückhaltender zu zeigen und jegliche aktive Unterstützung Russlands im Ukrainekrieg zu unterlassen. So hat Präsident Tokajew bei seinem Auftritt beim Internationalen Wirtschaftsforum im Juni 2022 in St. Petersburg auch deutlich gemacht, dass Kasachstan sich nicht in Angelegenheiten einmischen werde, die die Souveränität anderer Länder betreffen. Insbesondere hat er die Unabhängigkeit der Separatistengebiete Donezk und Luhansk nicht anerkannt und damit ein klares Signal an Russland gesendet, dass Kasachstan sich als unabhängige und souveräne Nation versteht. Es unterstreicht auch die wachsende Bedeutung von Kasachstan als eigenständiger Akteur in der Region, der in der Lage ist, seine eigenen Interessen und Prioritäten zu verfolgen. Dies hat zu einem ersten Riss in der sonst engen Allianz zwischen den beiden Ländern geführt. 

Geteilte Stimmung im Land 

Eine aktuelle Umfrage des Central Asia Barometer, die im Zeitraum von Mai bis Juni 2022 durchgeführt wurde, verdeutlicht die Stimmung im Land. Die in Bischkek ansässige Forschungsorganisation führte eine Telefonumfrage in Kasachstan durch, bei der fast die Hälfte der befragten kasachischen Bürgerinnen und Bürger angaben, über den russischen Einfluss besorgt zu sein. Das lässt in der Bevölkerung eine gewisse Unsicherheit bzw. Uneinigkeit erkennen, wenn es um die Bewertung der Rolle Russlands in Kasachstan geht.

Auch im Hinblick auf den Ukrainekrieg sind die Meinungen im Land geteilt: Nach einer vom Sozial- und Marktforschungsinstitut Demoscope durchgeführten Umfrage vom November 2022 waren 15 Prozent der Befragten der Ansicht, dass Russland eine besondere Militäroperation gegen Nazis führe, 18 Prozent betrachten den Ukrainekrieg als einen Krieg gegen westliche und NATO-Länder und 22 Prozent als einen Versuch, die Ukraine zu besetzen und zu annektieren. Fast die Hälfte der Befragten enthielt sich. 

Kasachstan’s diplomatische Tour de Force

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Kasachstan wirtschaftlich in vielerlei Hinsicht profitiert. Neben Russland zeigt nun auch die EU ein großes Interesse an engeren Beziehungen zu Kasachstan. Das Land bemüht sich aktiv, seine Wirtschaft zu diversifizieren und neue Partnerschaften und Investitionen aus aller Welt anzuziehen. So versucht Kasachstan, angesichts der geopolitischen Spannungen in der Region eine möglichst neutrale Haltung einzunehmen und seine Interessen zwischen Russland und Europa auszubalancieren, ohne international großes Aufsehen zu erregen. Es bleibt offen, für welche Seite sich Kasachstan entscheiden wird: Wird es sich auf die Seite seines historischen Verbündeten Russland stellen oder sich künftig stärker mit dem Westen verbünden? Einerseits hat Kasachstan enge Beziehungen zu Russland, die auf ihrer gemeinsamen sowjetischen Geschichte basieren. Einige Kasachinnen und Kasachen sehen Russland weiterhin als Schutzmacht und wichtigen wirtschaftlichen Partner an. Andere haben enge historische und kulturelle Verbindungen zu Russland. Andererseits gibt es aber auch Stimmen in Kasachstan, die sich gegen die Unterstützung Russlands im Ukrainekrieg stellen. So bewegt sich Kasachstan gegenwärtig auf einem schmalen Grat.  

*Die Autorin hat den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.