Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt

Folge 8: Armenien

Nele Müller*

Hauptstadt Eriwan am Fuß des Ararat

Eine kleine und international wenig beachtete diplomatische Anmaßung des kleinen südkaukasischen Landes ereignete sich kurz nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine. Russlands Proklamation am 21. Februar 2022, unmittelbar vor Beginn des Ukrainekrieges, die annektierten ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk als eigenständige Staaten anzuerkennen, wurde vom Juniorpartner im Kaukasus überraschenderweise nicht geteilt.

Armenien – Russlands strategischer Vorposten im Südkaukasus und Bereitsteller der größten und einzigen russischen Militärbasis im Ausland in der zweitgrößten Stadt des Landes, Gjumri – teilte in nüchterner diplomatischer Natur mit, dass die Anerkennung der beiden östlichen ukrainischen Gebiete derzeit nicht auf der außenpolitischen Agenda des Landes stehe. – Ein feiner, aber nicht minder beachtlicher diplomatischer Affront des drei Millionen Einwohner starken Landes gegen die Schutzmacht Russland. 

Im bisherigen Verlauf des Ukrainekrieges zeigte Armenien eine Haltung, die als strategische Stille bezeichnet werden kann. Eine Stille, die den Zweck erfüllt, einerseits den Sicherheitsgaranten Russland nicht zu verstimmen, andererseits die Annäherung an die EU nicht zu gefährden. Seit der Samtenen Revolution 2018, die durch friedliche Bürgerproteste den damaligen langjährigen Präsidenten Sersch Sargsjan zum Rücktritt zwang, kämpft das Land im Kaukasus um mehr Anerkennung aus Brüssel und dem Westen insgesamt. Mehr denn je befindet es sich damit zwischen den Fronten. Der Krieg in der Ukraine scheint dies zu verstärken, insbesondere beim kaukasischen Dauerkonflikt um Bergkarabach. Ist Eriwan aufgrund der engen und abhängigen Verflechtungen zu Moskau zur Neutralität im Ukrainekrieg verdammt oder gibt es eine Chance für das südkaukasische Land, sich vom Kreml zu emanzipieren? 

Eriwans diplomatischer Drahtseilakt 

Armenien sitzt zwischen den Stühlen im Ukrainekrieg: Geostrategisch von zwei verfeindeten Staaten, Türkei und Aserbaidschan, eingeschlossen und wirtschaftlich an die Schutzmacht Russland gebunden, ist der Spielraum Eriwans begrenzt. Außenpolitisch strebt Armenien eine neutrale Position an, um die fragile Balance im Südkaukasus nicht zu gefährden. Wenige Tage nach dem Einfall Russlands in die Ukraine ließ Armeniens Außenminister, Ararat Mirsojan, ein neutrales Statement verlauten, in dem er deutlich machte, dass Armenien auf eine friedliche und diplomatische Konfliktbeilegung hoffe. Ein starkes Intervenieren gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, wie es in westlichen Staaten der Fall war, fand dagegen nicht statt. Dazu hat sicherlich auch die Unterstützung Aserbaidschans durch Kiew 2020 im zweiten Bergkarabach-Krieg mit beigetragen. Vielmehr herrscht ein diplomatisches Zaudern in Eriwan. Um diese strategische Stille zu verstehen, bedarf es eines tieferen Blickes auf die russisch-armenischen Beziehungen und Armeniens internationale Stellung. 

Das bemühte Schweigen Armeniens zeigt sich weitgehend auch im Abstimmungsverhalten in der UN-Generalversammlung über Resolutionen, die den Krieg in der Ukraine behandeln. Bei ausnahmslos jeder UN-Resolution hat Armenien sich enthalten statt dagegen zu votieren wie Russlands enge Verbündete Belarus, Nordkorea oder Syrien. Das ist angesichts der engen und abhängigen Beziehung zu Russland durchaus bemerkenswert. Das Ziel scheint klar zu sein: Es gilt, weder die Schutzmacht Russland auf dem internationalen Parkett vorzuführen noch die Annäherung zur EU gänzlich zu gefährden. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Als der Europarat im März 2022 für einen Austritt Russlands stimmte, war es allein Armenien (seit 2001 Mitglied im Europarat), das zusammen mit Russland gegen den Austritt stimmte. 

Die armenische Regierung ist beim Ukrainekrieg sehr bemüht, nicht in diplomatische Fallstricke zu geraten. Dies äußert sich einerseits darin, dass der Patron Russland aufgrund des Angriffskrieges nicht durch internationale Akte düpiert werden soll, andererseits liebäugelt Nikol Paschinjans Regierung vorsichtig und heimlich immer wieder mit dem Westen und der EU. Mit dem EU-Abkommen Comprehensive and Enhanced Partnership Agreement, kurz CEPA, versucht Armenien, die enorme wirtschaftliche Abhängigkeit Russlands zu begrenzen und sich dem Westen, insbesondere der EU, zu öffnen. Russland wiederum versucht, das geostrategisch wichtige Land im Kaukasus weiter fest an sich zu binden, indem Armenien unter anderem zu besonders günstigen Konditionen Gas aus Russland beziehen kann und russische Peacekeeping-Truppen zur Grenzsicherung an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze stationiert sind. Zudem trat Armenien 2015 auf Druck Russlands der Eurasischen Wirtschaftsunion bei – einem Zusammenschluss der ehemaligen Sowjetstaaten Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Russland zu einer Wirtschaftsunion. Nach einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik aus dem Mai 2015 beobachtete die armenische Bevölkerung diesen Beitritt durchaus mit Argwohn und beklagte die noch größere Abhängigkeit zu Russland.

Die armenische Wirtschaft – ein Gewinner im Ukrainekrieg?

Das kaukasische Land ist nach wie vor stark geprägt von Landwirtschaft und wenig wettbewerbsfähiger Industrie. Gebeutelt durch Wirtschaftskrisen Anfang der 1990er Jahre ist Armenien bis heute verglichen mit den anderen Ländern im Südkaukasus ein wirtschaftlich schwacher Akteur. Der Transformationsprozess der armenischen Wirtschaft nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 von einer Plan- hin zu einer Marktwirtschaft verlief schleppend. Bis heute sind Teile der Industrie durch ein schweres Erdbeben Ende der 1980er Jahre stark beeinträchtigt und kaum wettbewerbsfähig. Das Erdbeben 1988 zerstörte weite Teile der im Norden des Landes verorteten Industriestandorte. Das Ereignis zog ins kollektive Gedächtnis Armeniens ein.

Armeniens Nr. 1 Handelspartner ist Russland. Das Land pflegt sehr enge und abhängige wirtschaftliche Beziehungen zu Moskau. Die Energieversorgung wird mit weit über 90 Prozent durch Russland sichergestellt. Billiges Gas aus Russland sichert Armeniens schwache Wirtschaft ab. Zudem ist Russland der Haupthandelspartner Armeniens: Ein Drittel des armenischen Im- und Exportes wird mit dem Kreml gehandelt. Auch beim Tourismus gehört Russland mit Abstand zum wichtigsten Partner. Mehr als 40 Prozent der Touristinnen und Touristen kommen aus Russland. So lag die Befürchtung nahe, dass durch die Sanktionspolitik des Westens die russische Wirtschaft entscheidend geschwächt werden und dies sich mittelbar auch auf die armenische Wirtschaft auswirken würde. Allerdings schwächt der Ukrainekrieg – entgegen den Prognosen der Weltbank im Jahr 2022 – die armenische Wirtschaft nicht ab. Ganz im Gegenteil: Die armenische Wirtschaft floriert und profitiert sogar von dem Krieg in der Ukraine. Im März 2023 erklärte der armenische Minister für Finanzen, Vahe Hovhannisyan, dass das Wirtschaftswachstum 2022 zum einen auf einen starken Bevölkerungszuwachs durch russische Immigranten, zum anderen auf einen starken Anstieg im Finanzverkehr zurückzuführen sei. Dennoch bleibt abzuwarten, ob sich die Wirtschaft auch weiterhin so positiv entwickeln wird.

Das Stimmungsbild in Armenien angesichts des Ukrainekrieges

Die Rahmenbedingungen, in denen Armenien agieren kann, sind äußert begrenzt. Wirtschaftlich und sicherheitspolitisch ist das Land abhängig von Russland. Über allgemein diplomatische Floskeln hinaus sind keine kritischen Töne aus Eriwan gegenüber Moskau zu vernehmen. Auch während des Krieges in der Ukraine finden regelmäßige Staatsbesuche zwischen beiden Ländern statt. Armenien ist nicht nur für die russische Bevölkerung ein sicherer Zufluchtsort, sondern auch für russische Regierungsvertreterinnen und -vertreter.

Nicht nur die Regierung, auch die Opposition im Parlament schlägt angesichts des Krieges in der Ukraine keinen explizit russlandfeindlichen Ton an. Dagegen vertritt die außerparlamentarische Opposition einen klaren pro-westlichen Standpunkt, so dass vereinzelt auch kleinere Kundgebungen gegen den Ukrainekrieg stattfinden. 

Die enge Bindung Armeniens an Russland spiegelt sich auch im Meinungsbild der Bevölkerung wider. Nach einer repräsentativen Umfrage des International Republican Institute in Washington D.C. vom Juni 2022 geben fast ein Drittel der armenischen Bevölkerung dem Westen die Schuld am Krieg, weitere 20 Prozent sehen in der Ukraine den Hauptverursacher der kriegerischen Auseinandersetzung und lediglich 13 Prozent sind der Meinung, dass Russland für den Krieg verantwortlich sei. Dabei lehnen zwei Drittel der Befragten Sanktionen gegenüber Russland ab. Auch wenn die Statistik eine klare Sprache für eine pro-russische Haltung innerhalb der armenischen Bevölkerung spricht, sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass insbesondere unter der jüngeren Bevölkerung die Nutzung westlicher Kommunikationsmedien (insbesondere Twitter, WhatsApp, Facebook) und die daraus resultierende Informationsgewinnung nicht unerheblich ist. Angestoßen durch die Samtene Revolution wünscht sich insbesondere die jüngere Bevölkerung eine stärkere Hinwendung an den Westen und zur EU. Neuere Umfragen der Marketing Professional Group in Armenien aus dem Dezember 2022 deuten auf einen Wandel im öffentlichen Meinungsbild hin. Die Zustimmung zum russischen Angriffskrieg nimmt innerhalb der armenischen Bevölkerung ab. Dabei mag die zögerliche Haltung Russlands im Bergkarabach-Konflikt ein Erklärungsgrund für das Abwenden vom Ukrainekrieg sein. Zudem sprechen der bisherige langwierige Kriegsverlauf und die fehlenden militärischen Erfolge Russlands für einen beginnenden Stimmungswandel in der armenischen Bevölkerung. Während im April 2022 noch über die Hälfte der Armenier an eine ukrainische Niederlage glaubte, war es im Dezember 2022 nur noch ein Viertel der Befragten.

Bergkarabach – Das Pulverfass im Kaukasus 

Während seit über einem Jahr die Ukraine um ihre nationale Existenz gegen Russland kämpft, ist fast lautlos im September 2022 an Europas Peripherie ein weiterer schwelender Konflikt erneut aufgeflammt: Bergkarabach, eine abgelegene Bergregion im Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan, um die beide Staaten kämpfen. Die letzte kriegerische Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 dauerte 44 Tage und endete mit einem von Russland initiierten Waffenstillstand und mit entscheidenden Gebietsgewinnen Aserbaidschans. Dieser von der armenischen Bevölkerung als schlecht erachtete Friedensschluss führte sowohl zu Protesten gegenüber der armenischen Regierung als auch zu anhaltenden Verstimmungen gegenüber Russland, da der Konflikt um diese Region emotional hoch aufgeladen ist. 

Das erneute Aufflammen des Bergkarabach-Konflikts beeinflusst die Sicherheit und das außenpolitische Handeln Armeniens stark. Insbesondere treibt Armenien die Angst um, dass der verfeindete Nachbar, Aserbaidschan, Kapital aus dem Ukrainekrieg schlagen könnte. So birgt der Krieg das Risiko, dass die Kaukasus-Region nicht nur gänzlich aus dem Blick des Westens, sondern auch Russlands geraten könnte. Wiederholt hat Armenien gegenüber Russland seinen Unmut über den Umgang mit den jüngsten Ereignissen im Bergkarabach-Konflikt geäußert. Erst jüngst beklagte Armenien im Verteidigungsbündnis der ehemaligen Sowjetstaaten (OVKS) die fehlende russische Unterstützung. Dies nahm der armenische Regierungschef auch zum Anlass, auf der OVKS-Konferenz in Eriwan im November 2022 die Unterzeichnung der Abschlusserklärung zu verweigern – ein weiterer Affront Armeniens gegenüber Russland. Letztlich ist für Armenien – anders als in den westlichen Staaten – nicht der Krieg in der Ukraine omnipräsent, sondern der Bergkarabach-Konflikt. 

Quo vadis Armenien?

Seit Ende des Jahres 2022 mehren sich angesichts des Bergkarabach-Konflikts auch die Verstimmungen seitens der armenischen Regierung gegenüber Russland. Von einem offenen Bruch mit dem engen russischen Partner ist derzeit allerdings nicht auszugehen. Jüngste Entwicklungen zeigen aber zugleich auch ein erhöhtes Engagement der EU und des Europarates. So plant die EU, eine Beobachter-Mission nach Bergkarabach zu entsenden. Der Europarat indes initiierte einen „Action-Plan für Armenien 2023–2026“. Mithilfe dieses Aktionsplans soll Armenien weiter unterstützt werden, unter anderem im Ausbau und in der Implementierung der europäischen Konvention für Menschenrechte. Ob sich daraus eine neue Gemengelage um die Einflusssphäre im Kaukasus zwischen dem Westen und Russland ereignen wird, bleibt abzuwarten.

*Die Autorin hat den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.