Russlands Angriff auf die Ukraine – ein eklatanter Völkerrechtsbruch

Der Krieg Wladimir Putins gegen die Ukraine stellt die bislang größte Gefährdung des Friedens in Europa seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes dar. Aber noch viel mehr: Der 24. Februar 2022 markiert eine Zäsur in der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung. Mit diesem Tag gehört die Ära der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) und der Charta von Paris (1990) unwiderruflich der Vergangenheit an.

Die dort formulierten Prinzipien – Gewaltverzicht und Achtung des Völkerrechts gemäß der UN-Charta, Menschenrechtsschutz sowie territoriale Integrität – hat Putin missachtet. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt eine Verletzung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit (Art. 1 Abs. 1 UN-Charta) sowie einen Verstoß gegen das Gewaltverbot und die territoriale Integrität des ukrainischen Staates dar (Art. 2 Abs. 4 UN-Charta). Und auch der Versuch Putins, die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anzuerkennen und über einen Vertrag mit Vertretern der prorussischen Separatisten über „Freundschaft und Beistand“ den Einmarsch russischer Truppen in die Ostukraine völkerrechtlich zu legitimieren, widerspricht eindeutig dem Interventionsverbot (Art. 2 Abs. 1 UN-Charta). Die Behauptung, die russischstämmige Bevölkerung der Ostukraine vor Genozid schützen zu wollen und entsprechend den militärischen Einmarsch als Peacekeeping-Mission zu deklarieren, ist zynisch. Vielmehr stellt die russische Aggression einen Verstoß gegen das Budapester Memorandum von 1994 dar, in dem sich Russland verpflichtet, als Gegenleistung für den ukrainischen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine zu achten

Was steht hinter dem Angriff Putins?

In seiner Rede vom 21. Februar 2022 lässt Putin Einblicke in seine Weltsicht zu. Mit einem weiten Rückgriff in die russische Geschichte – bis in die Zarenzeit – betrachtet er die Ukraine als einen integralen Teil der russischen Geschichte. Er geht aber noch weiter: Für ihn stellt die Ukraine keine eigenständige Nation dar. Sie sei nur ein Konstrukt, das aus den Fehlern der Bolschewiki entstanden sei. Den hierin zum Ausdruck kommenden und weit über die Ukraine hinausreichenden Großmachtanspruch sieht er durch die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung der letzten Jahrzehnte zunehmend gefährdet. Er wirft dem Westen eine unrechtmäßige NATO-Erweiterung nach Osten vor. Diese sei eine „Politik der Eindämmung Russlands, eine offensichtliche geopolitische Dividende“. Vor diesem Hintergrund begründet er seinen militärischen Angriff als „eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Nation“ (24.02.2022). Dahinter stehen aber auch die Reformbewegungen seit der „Orangenen Revolution“ in der Ukraine oder auch die jüngsten zivilgesellschaftlichen Proteste in Weißrussland und Kasachstan. Sie sind es, die Putin fürchtet, denn sie könnten sich auch auf Russland ausweiten. Denn während er außenpolitisch Stärke zeigt, ist sein Regime innenpolitisch schwach.

Hätte der Westen den Angriff verhindern können?

Die diplomatischen Bemühungen des Westens liefen in den letzten Tagen und Wochen auf Hochtouren; eine Eskalation des Konfliktes und den Krieg in der Ukraine haben sie nicht verhindern können. Die Ursachen dieser Entwicklung reichen weiter zurück. Unter dem Eindruck der Friedensdividende setzte der Westen in den letzten drei Jahrzehnten auf einen werte- und interessenbasierten, auf liberalen Ordnungsmodellen und zunehmenden wirtschaftlichen Interdependenzen beruhenden Frieden in Europa. Damit standen vornehmlich zwei Institutionen im Fokus: die NATO und die Europäische Union. Diese wurden um einen Großteil der mittel- und osteuropäischen Staaten erweitert. Vernachlässigt wurde dagegen der weitaus schwierigere Ausbau einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung wie es die OSZE hätte werden können mit ihren vertrauensbildenden Maßnahmen, die Russland sehr viel stärker hätte einbinden können.

Wie nun auf Putins Angriff reagieren?

Was kann der Westen jetzt tun? In Putins Kriegserklärung an die Ukraine deutet sich das Dilemma bereits an. Wer sich ihm in den Weg stellt, dem droht er mit Vergeltung. Seine Worte klingen bedrohlich: „Wer auch immer versucht, uns zu behindern […] muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben“ (24.02.2022). Generell sind die Reaktionsmöglichkeiten demokratischer Staaten auf kriegsbereite Autokraten begrenzt. Letztere müssen keine Rücksicht auf ihre Bevölkerungen nehmen. Kriegsopfer und humanitäre Katastrophen beeindrucken sie wenig. Damit sind Demokratien – zumindest kurzfristig – im Nachteil.

Bislang hat der Westen auf die Eskalation des Konfliktes und den Krieg in der Ukraine mit wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen reagiert. Sanktionen haben verschiedene Ziele, insbesondere mahnen sie den begangenen Normbruch an. Das ist auch in der aktuellen Situation ihre Hauptfunktion. Zu einer Verhaltensänderung Putins werden die westlichen Sanktionen dagegen – zumindest in ihrer derzeitigen Form – nicht führen. Aber welche weiteren Möglichkeiten gibt es, Putin entgegenzutreten? Auf keinen Fall kann es ein militärisches Eingreifen der NATO sein. Die Gefahr eines dritten Weltkrieges wäre zu hoch und in keinerlei Weise zu rechtfertigen, wohl wissend, dass damit gegebene Sicherheitsgarantien eventuell nicht vollständig erfüllt werden (Budapester Memorandum 1994). Auch die militärische Ertüchtigung der Ukraine stößt angesichts der militärischen Übermacht Russlands an ihre Grenzen; zudem würde sie auf einen Stellvertreterkrieg hinauslaufen. Denkbar wäre dagegen eine Klage gegen Putin vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Selbst wenn Russland ein Urteil des Gerichtshofes missachten würde – wovon auszugehen ist –, wäre diese juristische Option zumindest eine weitere Möglichkeit, den Völkerrechtsverstoß Putins und den damit zusammenhängenden Normbruch anzumahnen. Zudem müssen – auch wenn bzw. gerade weil Krieg herrscht – Angebote der Deeskalation erfolgen, so lang der Weg von der Abschreckung über die Koexistenz zur Kooperation und gemeinsamen Sicherheit auch erscheinen mag. Eine Alternative hierzu gibt es nicht. Nötig sind neue Gesprächsformate und Foren, auch neutrale Vermittler. Eine wesentliche Aufgabe der Friedensforschung der nächsten Jahre wird darin liegen, solche zu eruieren und zu reflektieren. Dabei sind auch die innergesellschaftlichen Potenziale, insbesondere der jüngeren Generationen, stärker in den Blick zu nehmen. Notwendig ist zudem ein strategischer und mehrdimensionaler Ansatz, bei dem die einzelnen Maßnahmen nicht für sich allein stehen, sondern ineinandergreifen. Letztlich werden wir uns aber auf eine lange Zeit der Konfrontation und militärischen Abschreckung einstellen müssen – eine Situation, die wir mit 1990 überwunden glaubten.

Ines-Jacqueline Werkner, Aylin Altiparmak, Michael Empell, Lukas Gies, Henrike Ilka, Madlen Krüger, Lotta Mayer, Florian Stienen