Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt

Folge 12: Indien

Sophia Keller und Svea Muche*

© Official Website of the Prime Minister of India, www.pmindia.gov.in/en/ 15. November 2022, „PM arrives at the venue of the G20 summit in Bali Indonesia“, CC BY-ND 4.0
 

Als russische Truppen am 24. Februar 2022 in ukrainisches Territorium einmarschieren, steht die westliche Welt unter Schock. Sechs Tage später stimmt die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit einer historischen Mehrheit von 141 Ja- und fünf Nein-Stimmen für die Verurteilung des russischen Angriffs. Doch Indien, das nach China bevölkerungsreichste Land der Welt, enthält sich der Stimme.

Obwohl es zu einem Ende der Gewalt aufruft und sich für das Recht auf territoriale Integrität ausspricht, verfolgt es auch in nahezu allen darauffolgenden UN-Abstimmungen den Ansatz der Enthaltung und diplomatischen Neutralität. Auch bei der jüngsten Abstimmung über die Resolution der Vereinten Nationen zum Jahrestag der Invasion, die den Abzug russischer Truppen aus der Ukraine und ein Ende der Kämpfe fordert, enthält sich Indien – zur Enttäuschung der Ukraine, des Westens und der Welt. 

Indische Reaktionen auf den Ukrainekrieg  

Als unmittelbare Reaktion auf den Angriffskrieg sendete Indien im März 2022 humanitäre Hilfsgüter und medizinische Ausrüstung in die Ukraine. Daraus kann jedoch nicht auf das weitere politische Verhalten der indischen Regierung geschlossen werden. Denn hier lässt eine klare Positionierung Neu-Delhis bislang auf sich warten. Indiens Premierminister Narendra Modi findet seit Kriegsbeginn in der Ukraine bei jedem öffentlichen Auftritt (vermeintlich) klare und doch nahezu inhaltslose Worte, wenn es darum geht, die Position der indischen Regierung zum Krieg in der Ukraine darzustellen: Er spricht von Waffenstillstand, Diplomatie und Frieden – und adressiert damit stets beide Kriegsparteien. Und auch Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar bekräftigt in den ersten Monaten des Krieges immer wieder Indiens neutrale Haltung und wirbt für einen Weg der Diplomatie und des Dialoges.

Während die Ukraine vom Westen militärisch, finanziell und durch Sanktionen gegen Russland unterstützt wird, hält Indien an seiner Neutralität fest und beteiligt sich – wie die meisten Länder des Globalen Südens – nicht an den westlichen Sanktionen. Erst Anfang September 2022, knapp ein halbes Jahr nach der militärischen Invasion, stellte sich Modi in der Ukrainefrage erstmals gegen Wladimir Putin, indem er vor laufenden Kameras betont, dass „die heutige Ära keine Ära des Krieges“ sei. Diese Aussage kann als die deutlichste Position gewertet werden, die Indien bislang zum Krieg bezogen hat. Wenig später äußerte der indische Außenminister die Bedenken der indischen Regierung auch im UN-Sicherheitsrat, betonte, die Bedrohung durch den Ukrainekrieg sei „sehr beunruhigend“, wobei besonders das Risiko einer nuklearen Eskalation Ängste schüre. 

Im Umgang mit der ukrainischen Führung präsentiert sich Indien derweil als potenzieller Vermittler. So versichert Modi, dass Indien bereit sei, seinen Beitrag zu Friedensbemühungen in der Ukraine zu leisten, und es keine militärische Lösung für den Konflikt gebe. Vor diesem Hintergrund unterstützt Indien auch den von der Ukraine Ende 2022 eingebrachten Vorschlag eines internationalen Friedensgipfels. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj adressierte gezielt die indische Regierung und hofft auf deren Hilfe bei der Umsetzung des ukrainischen Vorhabens. Es scheint, als würde Indien seine ablehnende Haltung gegenüber dem Krieg zunehmend stärker artikulieren und gleichzeitig mit sanfter Kritik an Russland reagieren. Zugleich ist die indische Regierung jedoch nicht bereit, Russland öffentlich für den Krieg verantwortlich zu machen, denn von einer eindeutigen Verurteilung und Distanzierung Russlands ist sie noch weit entfernt. 

Auch die indische Opposition zeigt sich zurückhaltend und weitgehend auf der Linie der Regierung. Es scheint, dass die parlamentarische Opposition – angeführt von Indiens National Congress Partei – im Großen und Ganzen hinter ihrer Position steht. Zwar gibt es vereinzelt Stimmen, die der Regierung vorwerfen, auf der „falschen Seite der Geschichte“ zu stehen und moralische Standards zu untergraben – so der indische Oppositionspolitiker Shashi Tharoor –, in offiziellen Stellungnahmen unterstützen die Oppositionsparteien jedoch geschlossen die vorgeblich neutrale Haltung der Regierung und ihre Enthaltungen bei den UN-Resolutionen.

Ganz anders die Anhänger und Anhängerinnen der rechtskonservativen politischen Gruppierung Hindu Sena. Sie demonstrieren auf der Straße für die Unterstützung Russlands bei der Invasion der Ukraine. Auf ihren Plakaten stehen Bekenntnisse wie „Russland, wir kämpfen mit dir“ und Forderungen nach einem „ungeteilten Russland“. 

Ungeachtet dieser Proteste und auch prorussischer Narrative in sozialen Medien steht die Bevölkerung mehrheitlich hinter der Haltung der Regierung Modi. Zahlreiche (Online-)Umfragen im Land deuten darauf hin, dass ein Großteil der Befragten den Krieg in der Ukraine zwar grundsätzlich ablehnt und verurteilt, gleichzeitig aber auch die neutrale Haltung der indischen Regierung unterstützt. Generell stößt der Ukrainekrieg in Indien – so auch Dr. Adrian Haack von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Neu-Delhi – auf eine eher geringe öffentliche Aufmerksamkeit – sowohl in den Medien als auch in der Bevölkerung.

Der Ukrainekrieg im Schatten russisch-indischer Beziehungen

Um Indiens diplomatische Position im Ukrainekrieg verstehen zu können, ist ein Blick auf die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Indiens – insbesondere zu Russland – unerlässlich. Indien und Russland verbindet eine langjährige Beziehung, die politisch lange Zeit vom außenpolitischen Mantra der „Blockfreiheit“ geprägt war: Indien galt anfangs als Vorreiter in der Bewegung der blockfreien Staaten, aufgrund seiner Kolonialvergangenheit verfolgte es zu keinem der politischen Lager enge Beziehungen. Im Laufe der Zeit hat sich Indien von der Blockfreiheit gelöst und ist ein – vor allem mit Russland – zunehmend verbündeter Staat geworden. Dazu hat insbesondere der indisch-pakistanische Krieg 1971 beigetragen, bei dem die Sowjetunion dem indischen Staat ihre Freundschaft sowie strategische, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit zusicherte. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges blieben Indiens Beziehungen zu Russland freundschaftlich und stabil. Beide Staaten sind heute Teil der BRICS, dem Gegengewicht zur G7, und enge Verbündete auf internationaler Bühne. Als wichtiger Lieferant von Waffen, Rohstoffen und Importen für den Energie- und Agrarsektor wird Russland von Indiens Führung – auch in diesen Zeiten – stets als unerlässlicher Partner hervorgehoben. Vor allem im militärischen Bereich ist Indien an Russland gebunden: 70 Prozent des indischen Rüstungsinventars sind russischen bzw. sowjetischen Ursprungs. Zwar hat sich diese Abhängigkeit in den letzten zwei Jahrzehnten verringert, da Indien seine Importe stärker diversifiziert, den Löwenanteil der Rüstungsgüter machen jedoch nach wie vor russische Importe aus. 

Mit seiner weitreichenden Abhängigkeit von Russland begründet Neu-Delhi seine neutrale Haltung im Ukrainekrieg. Ganz im Sinne der Doktrin „India First“ wird das nationale Interesse in den Vordergrund gestellt und jede Zurückhaltung, jede diplomatische Handlung und jede Entscheidung damit begründet. Denn der Krieg in der Ukraine lässt Indien nicht unberührt und hinterlässt wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Folgen. Der kriegsbedingte Anstieg der Energiepreise, die daraus resultierende Sorge um die Versorgungssicherheit und die Gefahr von politischen bzw. gesellschaftlichen Unruhen im Land bewegen Indien zu unerwarteten politischen Manövern. Trotz westlicher Sanktionen hält das Land an seinem Kurs enger Handelsbeziehungen mit Russland fest, intensiviert diese sogar: Seit dem Krieg haben sich die indischen Importe aus Russland vervielfacht, insbesondere im Bereich fossiler Energieträger. Um die eigene Energiesicherheit zu gewährleisten und den wachsenden Energiebedarf zu decken, nutzt das Land seit Beginn des Krieges die Gelegenheit, Kohle, Gas und Öl zu günstigen Preisen aus Russland zu beziehen und entwickelt sich so zum größten Abnehmer russischen Erdöls.

Das gegenwärtige wirtschaftspolitische Verhalten Indiens gegenüber Russland könnte Kritikerinnen und Kritikern Anlass zu der Einordnung geben, Indien stelle sich – ähnlich wie China – auf die Seite Moskaus. Allerdings ist die indische Agenda eine andere: 

„Unser Standpunkt ist ein ganz anderer [als der Chinas]. Es ist keine blinde Unterstützung Russlands. Wir haben bestimmte Kooperationslinien mit Russland, die wir beibehalten müssen. Die Verteidigung ist das Wichtigste, aber auch das Erdöl […]. Der Punkt ist: Wenn wir Energie billig bekommen, dann kaufen wir sie“

Pundi Srinivasan Raghavan, India National Security Advisory Board

Neben der langjährigen Bindung an Russland haben auch die Beziehungen zum Westen in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Mit den USA schloss Indien 2006 ein ziviles Nuklearabkommen und weitete mit Rüstungsimporten und Technologietransfers auch seine strategische Partnerschaft kontinuierlich aus. Zur Ukraine pflegt Indien derweil freundschaftliche, jedoch nicht sonderlich intensive Beziehungen. Diese beschränken sich auf geringe Handelsaktivitäten im Lebensmittel- und Agrarbereich.

Indiens Angst vor einer unkontrollierbaren Russland-China-Achse 

Der Krieg in der Ukraine stellt Indien auch vor große sicherheits- und geopolitische Herausforderungen: Mit China steht Indien seit Jahrzehnten in einem offenen Grenzkonflikt im Himalaya, der sich seit 2020 zunehmend zuspitzt. Und auch im indischen Ozean übt China vermehrt militärischen Druck auf Indien aus, was die beiden Staaten noch weiter auseinandertreibt. 

Indien besitzt keine eigene Rüstungsindustrie. Russland hat sich bislang als verlässlicher Partner Indiens erwiesen und bei Grenzstreitigkeiten militärische Ausrüstung bereitgestellt. Doch nicht nur im Kontext seiner Relevanz als Indiens Rüstungsquelle ist der russische Angriffskrieg eine sicherheitspolitisch gefährliche Situation für Indien. Im Zuge des Ukrainekrieges lässt sich eine strategische Annäherung zwischen Peking und Moskau beobachten. Sie droht nicht nur den Kriegsverlauf in der Ukraine und die globale geopolitische Lage zu beeinflussen, sondern gleichzeitig auch die indisch-russischen Beziehungen zu schwächen und Indiens Rolle als aufstrebende Regionalmacht in Südasien zu gefährden. Um eine weitere Annäherung zwischen Russland und China und eine „unkontrollierte Russland-China-Achse“ zu verhindern, verzichtet Indien bisweilen auf eine offene Distanzierung von Russland und betont stattdessen seine nationale Autonomie gegenüber dem Westen und die guten Beziehungen zu Russland, die es auch nach dem Ukrainekrieg aufrechterhalten will. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine erschwert somit einerseits Indiens außenpolitisches Manövrieren zwischen Russland und dem Westen und droht andererseits, die geopolitische Konstellation in Asien zugunsten Chinas zu verändern. 

Die Schwächung und Isolierung Russlands durch den Ukrainekrieg verstärkt Indiens Sorge um Chinas steigenden Einfluss in Moskau und Asien. Neu-Delhi versucht daher, sich zugleich stärker den USA zuzuwenden, um ein machtpolitisches Gegengewicht zu China zu schaffen. Vor diesem Hintergrund hat sich Indien auch mit den USA, Australien und Japan („Quad“) im Indopazifik-Bündnis zusammengeschlossen. Dies könnte zu weiteren Spannungen zwischen dem Westen und dem russisch-chinesischen Block führen. Und Indien? Das Land beschreitet einen außenpolitischen Balanceakt, bei dem es versucht, dem mächtigen Nachbarn und wichtigen Partner Russland nicht in den Rücken zu fallen, zugleich aber auch die zukunftsträchtigen Beziehungen zum Westen nicht aufs Spiel zu setzen. 

Great Expectations: Eine „Ära des Friedens“ aus indischer Feder?

In den letzten Jahren hat sich Indien für den Westen, insbesondere die USA, zu einem relevanten Partner und regionalen Gegengewicht zu China entwickelt. Daraus folgte die Erwartungshaltung des Westens, die größte Demokratie der Welt würde sich „westlich“ positionieren und sich klar gegen den russischen Angriffskrieg stellen. Und auch der ukrainische Präsident Selenskyj betonte, dass sich sein Land von Indien wünsche, „das Richtige zu tun“.  

Das Land gilt seither als Swing State im Ukrainekrieg: Seine Beziehungen zu Russland und dem Westen sind stark, sein Einfluss im südasiatischen Raum groß, und so wird die Regierung um Modi seit Kriegsbeginn von den USA, Europa und Russland umworben, die Neu-Delhis Position zu beeinflussen versuchen. Indien sieht seine politische Zukunft derweil in einer multipolaren Weltordnung mit eigener Großmachtstellung. Seine Haltung zum Ukrainekrieg ist daher auch ein Produkt von Überlegungen zum globalen Gleichgewicht der Kräfte. Denn eine in viele Richtungen orientierte Außenpolitik und ein starkes diplomatisches Engagement zur Aufrechterhaltung guter Beziehungen sowohl zum Westen als auch zu Russland bleiben vorerst die Eckpfeiler von Indiens Ansatz der strategischen Autonomie. 

In diesem Jahr hat Indien den Vorsitz der G20 inne. Das Land steht vor der Herausforderung, Staaten zusammenzubringen und globale Probleme zu diskutieren. Indiens Premierminister Modi betont, dass es nun an der Zeit sei, eine „neue Weltordnung für die Post-Covid-Periode“ zu schaffen, eine, die „Frieden, Harmonie und Sicherheit in der Welt“ garantiere. Er sei sicher, wenn die G20 sich im „Heiligen Land von Buddha und Gandhi“ treffen, sie sich darauf einigen werden, eine Botschaft des Friedens in die Welt zu senden. Doch bislang scheint der Weg eher steinig: Beim ersten G20-Treffen unter Indiens Vorsitz kamen die wichtigsten Finanzminister der Welt noch zu keinem gemeinsamen Ergebnis.

*Die Autorinnen haben den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.