Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt

Folge 16: Brasilien

Lukas F. Gies

Luiz Inácio Lula da Silva und Xi Jinping in Peking am 14.4.2023, © Ricardo Stuckert/PR CC BY 2.0

Westliche Staaten dürften in Bezug auf den Ukrainekrieg große Hoffnungen in das Land am Amazonas gesetzt haben, als im Oktober 2022 nach einer knappen Stichwahl der rechtsgerichtete Ex-Präsident Jair Bolsonaro durch den linken Politiker Luiz Inácio Lula da Silva abgelöst wurde.

Lulas autokratischer Vorgänger hatte kurz vor Kriegsbeginn im Februar 2022 noch für internationale Schlagzeilen mit einem Besuch im Kreml und der geplanten Annäherung beider Länder in Energie- und Wirtschaftsfragen gesorgt. Seit Beginn der Invasion versuchte Bolsonaro, sich neutral zu positionieren, um wichtige Handelsströme mit Moskau nicht abreißen zu lassen und gleichzeitig für westliche Partner erreichbar zu bleiben, die ein neu gewonnenes Interesse an Brasiliens Ölvorkommen zeigen. Doch auch der Regierungswechsel sollte an dieser Position nur wenig ändern, wie unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch Anfang dieses Jahres feststellen musste. 

Kritisieren, aber nicht ausschließen

Auf der internationalen Bühne trägt Brasilien zwar die meisten Erklärungen gegen Russlands Vorgehen mit und spricht sich für ein schnelles Ende des Krieges sowie eine diplomatische Lösung aus, vermeidet es aber, Russland öffentlich als Aggressor zu benennen und sich eindeutig auf die Seite westlicher Länder zu stellen. Das Land stimmte zunächst für die Verurteilung des russischen Angriffs (A/RES/ES-11/1 vom 2. März 2022) und zeigte sich besorgt über die Angriffe auf die zivile Infrastruktur und die humanitäre Lage in der Ukraine (A/RES/ES-11/2 vom 24. März 2022). Auch schloss sich Brasilien der Nichtanerkennung der Referenden in den russisch besetzten Gebieten in der Ostukraine an (A/RES/ES-11/4 vom 13. Oktober 2022). Dennoch ist Brasilien bemüht, Russland international nicht zu isolieren und den Dialog in etablierten internationalen Foren aufrechtzuerhalten. So enthielt sich der Staat in der Abstimmung zum Ausschluss Russlands aus dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (A/RES/ES-11/3 vom 7. April 2022) und auch Kriegsreparationen seitens Russlands hat er weder befürwortet noch abgelehnt (A/RES/ES-11/5 vom 15. November 2023). Zusätzlich plädierte Brasilien zusammen mit China für einen Verbleib Russlands in den G20-Gesprächen auf Bali im November 2022. Der unter Bolsonaro amtierende Außenminister Carlos França rechtfertigte diese Position mit den Worten:

„Das wichtigste ist jetzt, dass alle internationalen Foren voll funktionsfähig sind. Das bedeutet, dass alle Länder anwesend sein müssen, auch Russland.“

Carlos França

Dies stünde in Verbindung mit „unserer traditionellen Position des Multilateralismus und der Wahrung internationalen Rechts.“ Auch die von westlichen Staaten auf den Weg gebrachten Sanktionen gegen Russland trägt Brasilien nicht mit. Sowohl Bolsonaro als auch sein Nachfolger Lula zeigen sich kritisch gegenüber dem Sanktionsregime und verweisen nicht nur auf die Konsequenzen für das eigene Land, sondern auch auf die Einschränkungen, die andere Länder des Globalen Südens erfahren würden, sollten sie sich den Sanktionen anschließen. 

Kampf um Dünger und Wachstum

Das zentrale Argument brasilianischer Außenpolitiker ist die Ernährungssicherheit. Brasilien besitzt als fünftgrößtes Land der Erde einen der größten Agrarsektoren weltweit und gilt neben der Ukraine als eines der wichtigsten Länder für die globale Ernährungssicherung. Das BIP war 2022 das elftgrößte des Planeten. Der springende Punkt ist jedoch die Abhängigkeit Brasiliens vom internationalen Markt für Düngemittel. Um die schwache heimische Produktion auszugleichen ist das Land mittlerweile der weltweit viertgrößte Importeur von Düngemitteln, d.h. ca. 85 Prozent von Stickstoff, Phosphat und Kalisalz kommen aus dem Ausland. Zusammen mit Belarus beträgt der russische Anteil an diesen Importen 30 Prozent zwischen 2017 und 2021, im Bereich des Kalisalzes sogar fast 50 Prozent. Russland ist zwar nicht unter den größten Handelspartnern Brasiliens und der Handel beschränkt sich bisher auf Produkte im Agrarsektor, jedoch wollen beide Länder ihre Handelsbeziehungen auch im Rahmen der BRICS-Staatengruppe vertiefen und diversifizieren. 2022 stieg das Handelsvolumen zwischen den beiden Staaten von 7,3 Milliarden auf 9,8 Milliarden US-Dollar.

Die hohe Importquote von Düngemitteln macht Brasilien allerdings empfindlich für globale Preisschwankungen und Engpässe. Es verwundert daher nicht, dass gerade dieses Thema sowohl gegenüber Russland als auch gegenüber westlichen Partnern von beiden Präsidenten häufig angesprochen wird. So betonte Präsident Lula auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz im Januar 2023, Brasilien befinde sich gerade nach der COVID 19-Pandemie und hoher Inflationsquote noch im Stadium eines Entwicklungslandes und sei daher besonders auf stabile Preise und Wirtschaftswachstum angewiesen. Dies gelte insbesondere auch für andere Staaten der BRICS-Gruppe. Darüber hinaus bietet das Land mit seinen zahlreichen Ressourcenvorkommen und einer umfangreichen Industrie rund um Bioenergie aus Zuckerrohr eine lukrative Anlaufstelle für westliche Staaten, die aufgrund des Konfliktes mit Russland ihre Energieversorgung breiter aufstellen wollen und müssen. Es wird deutlich, dass Brasilien zu abhängig von internationalen Warenströmen ist, um ein Sanktionsregime gegen Russland mitzutragen und sich eindeutig gegen Putin zu positionieren. Dazu äußerte sich Bolsonaro auf der 77. UN Generalversammlung:

„Wir unterstützen alle Maßnahmen, um die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Krise zu verringern, aber wir glauben nicht, dass der beste Weg dahin die Einsetzung von gezielten, unilateralen Sanktionen entgegen internationales Recht ist. Diese Maßnahmen verhindern die Erholung der Wirtschaft und beeinträchtigen die Menschenrechte bedrohter Populationen, Länder in Europa miteingeschlossen.“

Bolsonaro

Stimme für den Frieden – das geopolitische Moment Brasiliens

Beschrieb Bolsonaro diese Positionierung noch als „Linie des Gleichgewichts“ und riet dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Juli 2022, er solle kapitulieren, wie es Argentinien im Falklandkrieg mit Großbritannien 1982 tat, so scheint Lula diese Linie fortführen zu wollen. Er sieht die Kriegsschuld gleichermaßen bei der Ukraine und dem Westen, kritisiert die NATO-Osterweiterung sowie das außenpolitische Verhalten westlicher Länder und besteht ähnlich wie sein Amtsvorgänger auf eine schnelle diplomatische Lösung des Konfliktes mit Brasilien in der Vermittlerrolle.

Welche Lösung Lula dabei genau vorschwebt, ließ sich in diesem Frühjahr beobachten. Während zahlreicher Auslandsreisen äußerte der Präsident die Idee, eine Gemeinschaft von Staaten zusammenzubringen, die mit Russland und der Ukraine Friedensverhandlungen voranbringen sollen. Lula nennt dabei China, Indonesien und Indien als mögliche Partner. Diese Länder unterstützen zumindest offiziell keine der beiden Kriegsparteien und tragen auch das westliche Sanktionsregime nicht mit. Es sollen bewusst Akteure an den Verhandlungstisch gebracht werden, die weithin als neutral wahrgenommen werden, aber dennoch genug diplomatisches Gewicht besitzen, um eine Einigung zwischen Russland und der Ukraine erzielen zu können. Der Westen steht dabei erst einmal außen vor, was den gesamten Vorschlag nicht gut bei den entsprechenden Vertretern ankommen ließ. Es ist der Versuch die globalen Folgen des Krieges in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Gleichzeitig profiliert sich Brasilien aber auch als bedeutender globaler Verfechter von Multilateralität und Diplomatie. 

Besonders in den ersten Amtszeiten von Luiz Inácio Lula da Silva von 2003-2010 knüpfte das Land zahlreiche Bande mit anderen Entwicklungsländern und trat international für einen starken Multilateralismus in den Weltorganisationen ein. Dieser beinhaltete schon damals eine skeptische Haltung gegenüber den USA und den westlich dominierten internationalen Organisationen, die unter anderem aus den Erfahrungen mit der US-amerikanischen Außenpolitik in Lateinamerika sowie den Sparprogrammen und Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF und der Weltbank entstammen. Militärische Interventionen westlicher Staaten wie zum Beispiel in Libyen 2011 waren für Lula und seine Nachfolgerin auch immer wieder Anlass, die Anwendung von militärischer Gewalt international zu verurteilen und die Regeln zur Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat zu verschärfen. Damals versuchte Brasilien, sich mit dem Konzept des Responsibility while Protecting als Vertreter des Friedens zu etablieren und Kritik an den Einsätzen des Westens zu üben. Militärische Interventionen sollten als letztes Mittel erst nach Ausschöpfung aller diplomatischen Wege möglich sein. Die Befürchtung zum Machtmissbrauch dieser Maßnahme ist in Brasilien und anderen Ländern des Globalen Südens groß.

Nun verfolgt Lula diese Linie auch weiterhin konsequent. Die Gruppe der BRICS-Staaten hat im vergangenen Jahrzehnt eigene Institutionen zur wirtschaftlichen und fiskalpolitischen Zusammenarbeit gegründet, darunter die New Development Bank im Jahr 2014, um eine Alternative zu den genannten Mechanismen aufzustellen. Sie wird aktuell von der brasilianischen Ex-Präsidentin Dilma Roussef geleitet und erhält mittlerweile großen Zulauf aus Ländern des Globalen Südens und Nahen Ostens. Die BRICS-Staaten versuchen damit, sich international stärker aufzustellen und ein Gegenwicht zum westlichen Block zu bilden. Dabei sind Kooperationen nicht ausgeschlossen, aber man ist nicht mehr bereit, die außenpolitischen Positionen der Großmächte in Konfliktfragen unhinterfragt zu akzeptieren bzw. sich automatisch auf eine Seite zu stellen. Vielmehr wird versucht, eine neutrale Position zu wahren, um vorrangig wirtschaftliche Interessen nicht zu blockieren. Brasilien versucht dabei, eine tragende Rolle einzunehmen und sich als diplomatische Macht und Vertreter der Interessen des Globalen Südens zu positionieren.  Dieser Politikstil des active non-alignment ist zumindest für Lateinamerika  die Antwort auf sich verschiebende Machtverhältnisse auf der globalen Bühne. Es scheint, als verlaufe die Konfliktlinie aus brasilianischer Sicht nicht zwischen autoritären und liberal-demokratischen Systemen, sondern vor allem zwischen den Interessen von Staaten des Globalen Nordens und Südens. 

Um Beistand bemüht

Diese Sichtweise wird auch in großen Teilen von der brasilianischen Bevölkerung getragen. Nach wirtschaftlich schwierigen Jahren waren Wirtschaftswachstum und die bereits angesprochene Ernährungssicherheit zentrale Themen im Wahlkampf um die Präsidentschaft des Landes. Laut einer Ipsos Umfrage vom April 2022 sind knapp 80 Prozent der Befragten der Meinung, dass der Krieg in der Ukraine ein großes Risiko für die Welt darstellt und etwa die Hälfte sieht dieses Risiko auch für das eigene Land. Dabei befürchtet ein Drittel der Befragten ernsthafte Auswirkungen für den eigenen Job oder die Familie. Sanktionen, finanzielle Hilfen und die Lieferung von militärischen Gütern werden von den meisten Basilianerinnen und Brasilianern nicht unterstützt; nur knapp ein Drittel spricht sich für derartige Maßnahmen aus. Die Bereitschaft, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen, ist hoch. Brasilien beherbergt eine der größten ukrainischen Volksgruppen außerhalb ehemaliger Länder der Sowjetunion. Dabei sieht die Mehrheit die Kriegsschuld auch überwiegend nicht bei der Ukraine. Es findet sich jedoch auch starker Zuspruch für die angestrebte neutrale Positionierung der brasilianischen Außenpolitik. So ist generell der Zustimmungswert zur Aussage, dass Brasilien andere Länder unterstützen solle, wenn diese von anderen Staaten angegriffen werden, mit 54 Prozent einer der niedrigsten unter den befragten 27 Ländern. Dieser Trend setzt sich seit Beginn der russischen Invasion bis ins Jahr 2023 fort. 2023 sprachen sich sogar 32 Prozent für die Beibehaltung der diplomatischen Beziehung zu Russland aus – ein Plus von fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die Bevölkerung ist im Angesicht des Krieges in der Ukraine also gespalten. Man ist um Beistand mit der Ukraine und die Einhaltung einer regelbasierten internationalen Ordnung bemüht. Harte Sanktionen oder andere Maßnahmen, die eindeutig Russland in den Fokus nehmen, werden aber abgelehnt und eine neutrale Position bevorzugt. 

Die Karten werden neu gemischt

Lula sieht auch weiterhin die BRICS-Staatengruppe und die Ausnutzung aller friedlichen Mittel als zentrales Element in seiner Außenpolitik in der Ukrainefrage an. Seine Reise nach China, dem wichtigsten Handelspartner Brasiliens, im April 2023 und die Absage an Olaf Scholz sowie den Westen zu Munitionslieferungen zeigen, wo Lula das Land in Zukunft international platzieren will. Brasiliens Ressourcenvorkommen und die wachsende Industrie rund um erneuerbare Energien machen das Land für Investoren aus dem Ausland attraktiv. Lula weiß, dass sowohl der Westen als auch andere Staaten sein Land als Schlüsselpartner in der sich ändernden globalen Weltordnung ansehen. Unter dem Paradigma des active-non alignment wird versucht, das Fenster zu nutzen und Brasilien als führende Stimme des Globalen Südens zu etablieren, die sich nicht von anderen Machtblöcken beeinflussen lässt. Gleichzeitig tritt das Land für Multilateralismus und Diplomatie ein, um als internationaler Friedensakteur an Gewicht zu gewinnen. Mit seinen Vorschlägen in den Vereinten Nationen und der Unterstützung für alternative Institutionen und Gremien wird klar, dass der bisherige Status quo nicht mehr weiter getragen wird und Reformen nötig sind. Präsident Lula versprach, Brasilien nach den schwierigen Jahren unter Bolsonaro wieder zurück auf die Weltbühne zu führen. Die Kritik aus dem Westen, die verhaltene Resonanz auf Lulas Friedensplan sowie die Interessen anderer Staaten der BRICS-Gruppe lassen daran jedoch zumindest Zweifel aufkommen.