Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt
Folge 15: OAS, AU und ASEAN
Darius Pscherer*
Die Maßnahmen der Europäischen Union gegen den russischen Angriffskrieg waren direkt und umfassend: Sanktionspakete gegen Russland, Finanzhilfen für die Ukraine und ein beschleunigter Asylmechanismus. Während die EU also wenig Zweifel an ihrer außenpolitischen Linie lässt, ist die Positionierung anderer Regionalorganisationen weitaus undurchsichtiger.
Daran anknüpfend analysiert der folgende Beitrag die verschiedenen Maßnahmen und Strategien dreier außereuropäischer Regionalorganisationen im Hinblick auf den Ukrainekrieg, der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), der Afrikanischen Union (AU) und des Verbands Südostasiatischer Staaten (ASEAN).
Organisation Amerikanischer Staaten – Resolutionen ohne Wirkung?
In Reaktion auf den russischen Angriffskrieg positionierte sich die OAS im Vergleich zu anderen Regionalorganisationen entschieden gegen die russische Aggression. Nahezu alle Repräsentanten und Organe – einschließlich Generalsekretäre, Ständiger Rat und Generalversammlung – haben den Krieg in öffentlichen Statements und Resolutionen scharf kritisiert. Bereits am Tag nach dem Einmarsch der russischen Armee ratifizierten die Mitgliedsstaaten eine Deklaration des Ständigen Rates zur Verurteilung des Angriffs. Der Wortlaut der Deklaration macht auch den Kampf um die politische Deutungshoheit im Angesicht russischer Propaganda deutlich. Die russische Invasion wird als „gesetzeswidrig, ungerechtfertigt und nicht provoziert“ bezeichnet und kann als direkte Antwort auf das Narrativ des Kremls gewertet werden, der bekanntermaßen die NATO-Osterweiterung als kriegsverursachende Provokation und eine scheinbar notwendige Entnazifizierung als Rechtfertigung für den Krieg nutzt. Im März 2022 bekräftigte der Ständige Rat seine Position mit der Verabschiedung der rechtlich bindenden Resolution 1192. Einen Monat später beschlossen die Mitgliedstaaten, den Beobachterstatus Russlands bei der OAS aufzuheben. Im Oktober 2022 folgte die Generalversammlung mit einer inhaltlich ähnlichen Deklaration. Die Argumente der Resolutionen umfassen hauptsächlich legalistische Verweise auf die einschlägigen Verträge des internationalen Völkerrechts. Unter Berufung auf das Verbot militärischer Aggression kritisieren die Mitgliedsstaaten insbesondere die Missachtung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine. Konsequenterweise verurteilen die Unterzeichnerstaaten auch die russische Anerkennung der Republiken Donezk und Luhansk als illegalen Akt ohne völkerrechtliche Gültigkeit. Nebst einem Appell zur Achtung der Menschenrechte wird auch der Bruch des humanitären Völkerrechts angeprangert, insbesondere die Tötung von Zivilistinnen und Zivilisten, die Misshandlung und Folter Kriegsgefangener sowie die sexuelle Gewalt durch russische Soldaten.
Resolutionen und Deklarationen der OAS benötigen keinen Konsens und können bereits mit einfacher Mehrheit verabschiedet werden. Das Abstimmungsverhalten der Mitgliedsstaaten ist in folgendem Diagramm visualisiert:
Die Analyse zeigt, dass die verurteilende Haltung der Resolutionen nicht von allen Ländern mitgetragen wird. Bedeutende Mitgliedsstaaten wie Argentinien, Mexiko oder Honduras haben ihre Unterstützung teilweise, Brasilien und Bolivien sogar vollständig entsagt. Und auch hinsichtlich der Sitzungsprotokolle folgen die Begründungen für die Enthaltungen jener Mitgliedsstaaten einem ähnlichen Argumentationsmuster. Der Repräsentant der karibischen Inselgruppe St. Vincent steht stellvertretend für diese Position, indem er betont, „dass unsere Ablehnung nicht dem Inhalt der Resolution an sich gilt, sondern der Missachtung von fundamentalen Prinzipien, Gleichbehandlung und Kohärenz durch anwesende Staaten.“ – ein Fingerzeig in Richtung Washington und seine vergangenen Völkerrechtsbrüche, die sich unter anderem auch gegen OAS-Mitglieder richteten. Kontroversen und Spaltungstendenzen sind in der OAS nicht unüblich. Insbesondere linksgerichtete Regierungen Lateinamerikas prangerten des Öfteren einen unverhältnismäßigen Einfluss der USA auf die Organisation an. Auffällig ist in diesem Kontext auch, dass Kuba, Nicaragua und Venezuela (traditionell enge Verbündete Russlands) aus der OAS ausgetreten sind oder suspendiert wurden.
Vordergründig scheint sich die OAS eindeutig gegen Russland zu positionieren. Im Hintergrund gibt es dennoch inhaltliche Differenzen, die weniger auf eine fehlende Solidarität mit der Ukraine als auf die Beteiligung der USA an diesem und anderen Konflikten zurückzuführen ist. So verbleibt die OAS letztendlich beim kleinsten gemeinsamen Nenner: Resolutionen mit den erwartbaren Verweisen auf internationales Völkerrecht, was in legaler und moralischer Hinsicht korrekt sein mag, jedoch im Angesicht der bereits vorhandenen Resolutionen der UN-Generalversammlung eine unübersehbare Redundanz und politisch eine annehmbar schwache Wirksamkeit entfaltet.
Afrikanische Union – pragmatische Blockfreiheit
Im internationalen Vergleich reagierten die Afrikanische Union (AU) und ihre Mitgliedsstaaten betont zurückhaltend auf die russische Invasion. Multilaterale Resolutionen, die den Völkerrechtsbruch anprangern oder gar sanktionieren, wurden bisher nicht verabschiedet. Auch das Abstimmungsverhalten der AU-Mitgliedsstaaten bei der UN-Resolution ES-11/1 zur Verurteilung des russischen Angriffskriegs besticht nicht durch Konsens. So entfiel knapp die Hälfte der 35 Enthaltungen auf AU-Mitgliedsstaaten. Eine weitläufig vorgebrachte Antwort westlicher Politikerinnen und Politiker sowie Medienvertreterinnen und Medienvertreter auf die Frage nach den Ursachen für diese Haltung macht den geopolitischen Einfluss Russlands als Ursache für das Abstimmungsverhalten verantwortlich. Diese Begründung mag zwar in spezifischen Fällen korrekt sein, bietet jedoch nur eine sehr eindimensionale Erklärung. Analystinnen und Analysten mehrerer afrikanischer Wissenschaftsinstitute, wie dem African Institute of Security Studies, interpretieren die Enthaltung der afrikanischen Staaten hingegen als Weiterführung der politischen Prinzipien der Bewegung Blockfreier Staaten. Diese Position spiegelt sich auch im Statement des AU-Vorsitzenden Macky Sall und des Vorsitzenden der AU-Kommission Moussa Faki Mahamat, wider. Während die OAS-Resolutionen sich ausschließlich an Russland richten, fordern die Vorsitzenden der AU beide Parteien zu einem unmittelbaren Waffenstillstand und dem Beginn politischer Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen auf. Des Weiteren sticht ins Auge, dass neben dem Appell an Russland, die Souveränität der Ukraine zu respektieren, auch „jeder regionale oder internationale Akteur“ zur Achtung des Völkerrechts aufgefordert wird. Dieses Argument wird von mehreren AU-Mitgliedsstaaten vertreten und beruht auf dem Vorwurf der Doppelmoral westlicher Staaten bei der Anwendung völkerrechtlicher Standards, der auch von einigen OAS-Mitgliedern vertreten wird. Ein Staatsekretär des südafrikanischen Außenministeriums erklärte die neutrale Haltung seines Landes mit der kritischen Frage nach der Verhältnismäßigkeit aufgrund nicht-geahndeter völkerrechtswidriger Kriege in Jemen, im Irak oder in Libyen. Einerseits Russland mit Sanktionen und moralischer Abwertung zu begegnen, während völkerrechtswidrige Kriege westlicher Staaten und deren Verbündeter ungesühnt bleiben, entbehre jeder Kohärenz.
Ein weiterer Grund für die zurückhaltende außenpolitische Linie der AU und ihrer Mitglieder kann im pragmatischen Ansatz zum Schutz nationaler Interessen gesehen werden. In diesem Kontext spielen insbesondere Getreideimporte, respektive die nationale Lebensmittelsicherheit eine entscheidende Rolle. Sowohl die Ukraine als auch Russland sind wichtige Exporteure im globalen Düngemittel- und Getreidehandel. Gemeinsam kontrollieren die beiden Staaten circa 35 Prozent der Weizen-, 25 Prozent der Gersten-, 75 Prozent der Sonnenblumenöl- und 20 Prozent aller Maisexporte weltweit. Ein nennenswerter Teil dieser Lebensmittel geht auch in die AU-Mitgliedsstaaten. Das folgende Diagramm des International Food Policy Institute von 2022 zeigt ausgewählte Staaten und den jeweiligen Anteil ukrainischer bzw. russischer Importe an der Gesamtmenge ihrer Getreideimporte:
Angesicht dieser Risiken für die menschliche Sicherheit der eigenen Bevölkerung erscheint es rational und nachvollziehbar, dass die außenpolitische Linie der AU in besonderer Weise auf Deeskalation und Zurückhaltung ausgerichtet ist. Konfrontative Maßnahmen gegenüber einer Konfliktpartei durch moralische Verurteilung oder gar wirtschaftliche Sanktionen (die bisher von keinem AU-Mitglied verhängt wurden) schwächen die diplomatische Verhandlungsposition. Deren Bedeutung offenbarte sich auch beim Besuch des AU-Vorsitzenden Macky Sall beim russischen Präsidenten Wladimir Putin im Juni 2022. Das Büro des AU-Vorsitzenden ließ bereits vor dem Treffen verlautbaren, dass die Ausfuhren ukrainischen Getreides das primäre Anliegen markieren. Im Kontext des Treffens kritisierte Macky Sall die westlichen Sanktionen bzw. den Ausschluss Russlands vom internationalen Zahlungssystem SWIFT. Zumindest für alle Lebensmittelexporte solle das Verbot aufgehoben werden, um einerseits die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und andererseits den Preisanstieg bei Agrarprodukten zu dämpfen. Ähnliche Verlautbarungen waren aus dem Kreml zu vernehmen. Die Tatsache, dass einige Wochen darauf ein Abkommen zwischen beiden Konfliktparteien zur Ausfuhr der Getreidelieferungen unter der Vermittlung der Türkei und den Vereinten Nationen geschlossen wurde, kann durchaus auch als außenpolitischer Erfolg der AU gewertet werden und wurde folgerichtig von ihren Mitgliedsstaaten begrüßt. Hieran zeigt sich, dass die Position der Blockfreiheit und Neutralität auch dem Schutz eigener außenpolitscher Interessen dienen kann.
ASEAN als unparteiischer Vermittler?
Wie bereits bei der OAS und noch deutlicher bei der AU repräsentiert auch die Vereinigung der südostasiatischen Nationen (ASEAN) eine Mehrstimmigkeit in der Bewertung des Ukrainekrieges. Die inhaltliche Bruchlinie offenbarte sich beispielsweise im Abschlusscommuniqué eines EU-ASEAN-Treffens im Dezember 2022, da statt einer Konsensentscheidung nur die „meisten Mitglieder“ den Krieg verurteilten. Auf der einen Seite stehen mit Laos und Vietnam historisch zwei enge Verbündete Russlands. Beide Länder waren auch die einzigen ASEAN-Mitglieder, die sich im Rahmen der UN-Resolutionen enthielten. Singapur wiederum stellt das andere Extrem dar, da es als eines der wenigen Länder außerhalb des Westens wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verhängte. Zwischen diesen beiden Extremen verteilen sich die Positionen der übrigen Staaten, wie beispielsweise die Philippinen, die sich trotz ihrer engen militärischen Partnerschaft mit den USA als „neutral“ bezeichnen.
In den ersten zwei Monaten nach Kriegsbeginn veröffentlichten die Außenminister der ASEAN-Staaten drei kurze Stellungnahmen mit Bezug auf die Ukraine. Darin fordern sie einerseits die Einhaltung des Völkerrechts und der UN-Charta, auf der anderen Seite verurteilen sie den russischen Angriffskrieg nicht explizit und bezeichnen ihn auch nicht als Invasion oder militärische Aggression. Der kleine rhetorische Unterschied, dass die Aufforderung zu militärischer Zurückhaltung nicht direkt an Russland, sondern an „alle relevanten Akteure“ adressiert wird, mag aufgrund der Offensichtlichkeit des Kriegsgeschehens nur diplomatische Finesse zu sein. Dennoch offenbart sich hier eine Parallele zur kritischen Haltung der AU, die ebenfalls die Einhaltung des Völkerrechts von allen Staaten einfordert.
Nennenswert, weil im Vergleich zu anderen Regionalorganisationen einzigartig, sind die Vorschläge und diplomatischen Vorstöße der ASEAN-Außenminister. Wiederholt betonten sie, dass noch immer „Raum für friedlichen Dialog“ vorhanden sei, um der Gefahr eines fortschreitenden sicherheitspolitischen Kontrollverlustes entgegenzuwirken. Neben dieser Aufforderung zu Friedensverhandlungen, deren Erwähnung in den OAS-Resolutionen keinen Platz gefunden hat, bieten die ASEAN Mitglieder darüber hinaus die eigene Unterstützung für diesen Prozess an. Ein unparteiischer Vermittler, dessen Rolle im besten Falle von neutralen Drittstaaten oder Staatenbündnissen ausgefüllt wird, könnte das Fundament einer politischen Verhandlungslösung darstellen. Dementsprechend könnten die südostasiatischen Staaten durchaus eine effektive Unterstützung für die Lösung des Konfliktes bieten – die Ernsthaftigkeit des Angebots und den Willen der Konfliktparteien vorausgesetzt.
Die Suche nach Konsens
Die Analyse der außereuropäischen Regionalorganisationen offenbart die Herausforderungen bei der Entwicklung einer gemeinsamen Linie im Ukrainekrieg. Unter den Mitgliedsstaaten herrscht nur begrenzt Konsens darüber, wie der Ukrainekrieg zu bewerten ist bzw. wie sich die Organisationen positionieren sollten. Die OAS hat zwar in ihren Resolutionen eine eindeutige Haltung formuliert, die jedoch nicht von allen Mitgliedern unterstützt wird und zudem einen völkerrechtsbezogenen Minimalkonsens mit annehmbar schwacher politischer Wirksamkeit darstellt. Auf Basis von Blockfreiheit und Neutralität scheint die Afrikanische Union hingegen nur dann konkret Position zu beziehen, wenn außenpolitische Interessen betroffen sind (wie beim Getreideabkommen). Die neutrale Position mag historisch gewachsen sein, doch resultiert sicherlich auch aus den konträren Perspektiven der AU-Mitgliedsstaaten in Bezug auf den Krieg. Einzig ASEAN entwickelte trotz interner Differenzen das konkrete Angebot, eine Vermittlerrolle in potenziellen Friedenshandlungen einzunehmen, wobei jedoch unklar bleibt, warum das nicht die Vereinten Nationen übernehmen sollten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der inhaltliche Dissens zwischen den Mitgliedsstaaten sowohl eine einheitliche Positionierung als auch die Umsetzung konkreter Maßnahmen auf multilateraler Ebene verhindert. Ohne das Erreichen dieser gemeinsamen Haltung werden die Regionalorganisationen wohl weiterhin wenig Einfluss auf den Ukrainekrieg oder dessen Lösung nehmen können.
*Der Autor hat den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.