Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt
Folge 13: Belarus
Trisanna Gilli*
Am 24. Februar 2022 hat Russland gegen sein Nachbarland Ukraine einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gestartet, nachdem der Krieg im Osten der Ukraine bereits seit der Annexion der Krim 2014 geführt wird. Die Republik Belarus hat sich in dieser Zeit als einer der engsten Verbündeten Russlands erwiesen und unterstützt den Krieg tatkräftig, vor allem durch die Bereitstellung militärischer und ziviler Infrastruktur.
Belarus und die Ukraine verbindet dabei eine über eintausend Kilometer lange gemeinsame Grenze. Der Krieg in der Ukraine hat für Belarus sowohl innenpolitische Folgen als auch internationale Konsequenzen. Die westliche Staatengemeinschaft interpretiert das Verhalten von Belarus deutlich als Komplizenschaft und hat die bereits seit 2020 bestehenden Sanktionen weiter verschärft.
Bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges kam die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 2. März 2022 zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen und verurteilte den Krieg Russlands in einer Resolution. In der Generalversammlung am 24. März 2022 wurde eine Resolution zu den humanitären Folgen verabschiedet und der sofortige Abzug der russischen Truppen gefordert. Am 12. Oktober 2022 haben die Vereinten Nationen dann in einer Resolution die Annexion von vier ukrainischen Regionen – Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja – durch Russland verurteilt. Bei der letzten UN-Resolution am 23. Februar 2023 zum Jahrestag des Krieges haben 141 Staaten erneut für einen unverzüglichen Abzug der russischen Truppen von dem ukrainischen Territorium gestimmt. Nur jeweils fünf bis sieben Staaten haben gegen die genannten Resolutionen gestimmt, unter anderem Russland und Belarus. Im Zuge ihrer letzten Resolution hat die Generalversammlung auch zwei Änderungsanträge von Belarus abgelehnt, welche darauf abzielten, Formulierungen der Resolution zu verändern. Dazu gehörte auch die Aufforderung an die UN-Mitgliedstaaten, keine Waffen in das Kriegsgebiet zu liefern. Das Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen lässt die Loyalität von Belarus zu Russland deutlich erkennen und führt zu einer weiteren politischen Isolation des Landes in der internationalen Staatengemeinschaft.
Sanktionen verursachen ökonomische Krise
Die Sanktionen und die verringerten Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere vonseiten der EU und den USA, haben weitreichende Auswirkungen auf die Wirtschaft in Belarus. Das betrifft vor allem die Exporte. Einerseits sind die Exporte in die EU 2022 um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahreswert gesunken. So konnten Holzprodukte im Wert von fast 400 Millionen Euro nicht mehr in die EU exportiert werden, während die Holzexporte aus anderen Staaten wie Kirgistan oder Kasachstan in die EU in diesem Zeitraum gestiegen sind. Das legt die Annahme nahe, dass Belarus versucht, mit Re-Exporten die Sanktionen zu umgehen. Durch Sanktionen im Bankensektor werden internationale Zahlungen erschwert. Ebenfalls leidet die Transportbranche stark unter den Sanktionen; hinzu kommen verstärkte Grenzkontrollen und geschlossene Grenzübergänge nach Polen und Litauen. Dies hat zu einem Umsatzrückgang von 25 Prozent im Jahr 2022 geführt. Andererseits ist es zu einer Zunahme von Exporten aus der EU nach Belarus gekommen, vor allem von Transportgeräten und Maschinen, welche wohl zu einem erheblichen Teil weiter nach Russland exportiert werden.
Vor dem Krieg haben Belarus und die Ukraine trotz politischer Differenzen gute wirtschaftliche Beziehungen unterhalten. Die Ukraine war der drittgrößte Exportmarkt, im Jahr 2021 wurden 14 Prozent aller Exporte in die Ukraine geliefert. So verschärft der Wegfall des ukrainischen Marktes und belarussischer Transportwege über ukrainische Häfen infolge des Krieges die wirtschaftliche Situation zusätzlich. Der Krieg in der Ukraine hat die größte ökonomische Krise seit den 1990er Jahren ausgelöst und die Wirtschaft in eine Rezession getrieben. Das Bruttoinlandsprodukt ist im vergangenen Jahr um 4,7 Prozent gesunken, die Inflation hat sich zwar verlangsamt, beträgt aber knapp 13 Prozent für 2022. Die Regierung versucht, die wirtschaftliche Situation möglichst zu verschleiern. Im Zuge der Verhandlungen über die ukrainischen Getreideexporte im Sommer 2022 war das Regime offiziell bemüht, eine Aufhebung der Sanktionen zu erwirken. Außerdem findet eine Nationalisierung von Wirtschaftsunternehmen statt. Dabei wurde der Ausstieg von McDonalds aus dem belarussischen Markt von Alexander Lukaschenko und staatlichen Medien als Befreiung von westlicher Konsumkultur gefeiert.
Das Machtzentrum Lukaschenko
Prägend für das politische System in Belarus ist die umfassende Machtkonzentration auf den Präsidenten Alexander Lukaschenko, welcher aufgrund mehrerer Verfassungsänderungen und der manipulierten Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 seit 1994 im Amt ist. Die Mitgliedsstaaten der EU haben das Wahlergebnis daher nicht offiziell anerkannt. Oft wird Lukaschenko als letzter Diktator Europas bezeichnet und strebt – wie der russische Präsident Wladimir Putin – eine Rückkehr zur Sowjetunion an. Am 27. Februar 2022 fand ein schon lange geplantes Verfassungsreferendum statt, welches Lukaschenko Immunität und die Chance einer unbegrenzten Amtszeit zusichert sowie Russland die Möglichkeit eröffnet, wieder Atomwaffen und dauerhaft russische Truppen in Belarus zu stationieren. Die Opposition im Exil verurteilte das Verfassungsreferendum als illegitim und rief dazu auf, die Stimmzettel ungültig zu machen, da nur die Wahl zwischen der aktuellen, von Lukaschenko geprägten Verfassung und einer neuen, auch von ihm diktierten Verfassung bestünde.
Opposition im Exil
In Belarus gibt es keine oppositionellen politischen Parteien und die gesamte demokratische Opposition hat sich seit der Wahl im Jahr 2020 ins Ausland verlagert oder wurde inhaftiert. Mit Beginn des Krieges hat die Opposition ihre Solidarität mit der Ukraine erklärt, aber betont stets, dass zwischen dem Regime und der Bevölkerung unterschieden werden muss. In den letzten Monaten ist der Einfluss der demokratischen Bewegung auf internationaler Ebene gestiegen und hat zu einer zunehmenden Institutionalisierung geführt.
Die bekannteste Vertreterin der Opposition ist Swetlana Tichanowskaja, welche 2020 zur Präsidentschaftswahl antrat. Vor dem Krieg in der Ukraine waren ihre Äußerungen gegenüber Russland eher vorsichtig; 2020 hat sie sich noch um die Unterstützung Russlands bemüht. Doch bereits am 24. Februar 2022 hat sie sich klar zur Ukraine positioniert und zu Protesten und einer Antikriegsbewegung aufgerufen. Im März 2023 wurde Tichanowskaja von einem Gericht in Abwesenheit wegen angeblichen Hochverrats und Verschwörung zur Machtergreifung zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Ein zweites Beispiel ist Ales Bjaljazki. Er ist ein belarussischer Menschenrechtler und Dissident und hat für seine Organisation Wjasna – gemeinsam mit der ukrainischen Organisation Zentrum für bürgerliche Freiheiten und der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial – 2022 den Friedensnobelpreis verliehen bekommen. Da Bjaljazki seit Juli 2021 inhaftiert ist, hat seine Frau Natalja Pintschuk seine Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises gehalten.
Ich weiß genau, welche Art von Ukraine Russland und Putin gefallen würde – eine abhängige Diktatur. Genauso, wie das heutige Belarus, wo die Stimme des unterdrückten Volkes nicht gehört wird. Die russischen Militärbasen, die enorme wirtschaftliche Abhängigkeit, die kulturelle und sprachliche Russifizierung – das beantwortet die Frage, auf wessen Seite Lukaschenko steht. Die belarussischen Machthaber sind nur in dem Maße unabhängig, wie Putin es ihnen erlaubt.
Natalja Pintschuk
Erst am 5. Januar 2023 begann der Prozess gegen Bjaljazi, in welchem er wegen angeblich organisierten Schmuggels und Finanzierung öffentlicher Unruhen zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde.
Zivilgesellschaft unter Druck
Nach der Präsidentschaftswahl 2020 ist es landesweit zu Protesten gekommen. Die autoritäre Regierung hat darauf mit massiver Repression reagiert. Infolgedessen wurden die meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen und unabhängigen Medien aufgelöst oder ins Exil gedrängt. Mehr als 100.000 Menschen haben seitdem das Land verlassen und zahlreiche politische Aktivistinnen und Aktivisten sowie Medienvertreterinnen und -vertreter wurden inhaftiert. Trotzdem gab es seit Beginn des Krieges eine Welle von Protesten. Die Antwort der Regierung waren die bewährten Formen der Repression: Verhaftungen, Gewalt, Folter und Einschüchterungen. Seither versucht das Regime, bereits kleinste Anzeichen von Antikriegsprotesten einzudämmen.
Da Straßenproteste schwierig sind, haben sich viele Menschen für andere Widerstandsformen entschieden, beispielsweise indem anonym Informationen über russische Truppenbewegungen oder Flugrichtungen von Raketen an den Aktivisten Anton Motolko für sein Projekt Belaruski Hajun gehen. Diese Informationen werden dann an die Ukraine weitergegeben und erreichen die Bevölkerung teilweise sogar früher als offizielle Warnsirenen. Eine andere Form des Widerstandes, vor allem in den ersten Kriegswochen, waren Sabotageakte der Eisenbahninfrastruktur wie die Beschädigung von elektronischen Stellwerken oder Cyberattacken auf das Eisenbahnnetz, um den russischen Vormarsch zu verlangsamen und die Versorgung der Truppen zu erschweren.
Der Krieg in der Ukraine hat zu einer zunehmenden sozialen Polarisierung zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Regierung beigetragen und verschärft den bereits seit längerem bestehenden sozio-politischen Konflikt. In den letzten Jahrzehnten werden vor allem das Fernsehen und Zeitungen zur Verbreitung der Staatspropaganda genutzt. Die staatlichen Medien erreichen nahezu jede und jeden in der Bevölkerung, aber von der demokratischen Bewegung im Exil oder der Friedensnobelpreisverleihung an Ales Bialiatski, erfahren nur diejenigen, die nichtstaatliche Medien konsumieren, deren Zugang erschwert ist. Staatliche Medien übernehmen größtenteils die Propaganda Russlands gegenüber der Ukraine. Meinungsumfragen belegen den Zusammenhang von dem Konsum belarussischer oder russischer Medien und der Zustimmung zu dem Krieg in der Ukraine.
Ungeachtet dessen ist sich aber die Bevölkerung einig in ihrer Ablehnung eines direkten militärischen Eingreifens durch das belarussische Militär. Der Belarus Change Tracker der Friedrich-Ebert-Stiftung von September 2022 hat herausgearbeitet, dass nur sieben Prozent der Bevölkerung einen Militäreinsatz eigener Truppen unterstützen würden. Dabei sorgt sich die Mehrheit davor, dass Belarus weiter in den Krieg hineingezogen werden könnte.
Die militärische Unterstützung des Krieges ohne Einsatz eigener Truppen
Diese Sorge der Bevölkerung scheint nicht unbegründet zu sein: Am 25. März 2023 hat Putin in einem Interview angekündigt, taktische Nuklearwaffen in Belarus zu stationieren. Die belarussische Regierung hat der Stationierung zugestimmt und begründet dies mit eigenen Sicherheitsinteressen. Belarus verfügt bereits über nuklearwaffenfähige Trägersysteme wie entsprechende Flugzeuge (Su-25) und nuklearwaffenfähige Raketen (Iskander). Auch Piloten sollen bereits ausgebildet werden. International wurde diese Ankündigung zurückhaltend und mit Sorge aufgenommen, aber auch als eine weitere nukleare Drohgebärde Russlands gegenüber westlichen Staaten und deren Bevölkerungen. Letztlich wird die anvisierte Stationierung auch als Reaktion auf fehlende militärische Erfolge in der Ukraine gewertet. Aus militärischer Perspektive ergeben sich für Russland durch die Verlagerung seiner taktischen Atomwaffen keine relevanten Vorteile. Belarus zeigt damit aber seine ungebrochene Unterstützung für Russland. Dabei drohen dem Land bei einer tatsächlichen Stationierung gegebenenfalls weitere internationale Sanktionen.
Die Regierung von Belarus hatte bereits seit Herbst 2021 ihr Territorium für gemeinsame Militärübungen mit Russland zur Verfügung gestellt; der Großteil der mehr als 150.000 russischen Soldaten blieb dort bis Kriegsbeginn. Belarus diente der russischen Armee als Aufmarschgebiet auf die nur etwa 100 Kilometer entfernt liegende ukrainische Hauptstadt Kiew. Seither wird das belarussische Territorium für Angriffe russischer Flugzeuge, Raketen und Drohnen genutzt, welche vor allem auf die zivile und kritische Infrastruktur der Ukraine abzielen. Beim regelmäßigen Aufstieg der MiG-31-K-Abfangjäger wird quasi automatisch in der gesamten Ukraine Luftalarm ausgelöst, weil die ukrainische Luftwaffe die Kinschal-Raketen (Hyperschallraketen) nur schwer abfangen kann. Aber die Unterstützung von Belarus geht weit darüber hinaus. Die gesamte militärische Infrastruktur – Militärbasen, Flughäfen, Reparaturdepots sowie die logistische und medizinische Versorgung der in der Ukraine und Belarus stationierten Truppen –, aber auch Panzer und schwere Waffen werden Russland zur Verfügung gestellt. Seit der russischen Mobilmachung unterstützt Belarus Putin angesichts ausgelasteter Kapazitäten auch bei der Ausbildung russischer Soldaten.
Seit Herbst 2022 stationiert Russland erneut russische Soldaten in Belarus. Bis zu 9.000 Soldaten sind dabei für eine gemeinsame russisch-belarussische Truppe vorgesehen. Diese Truppe soll laut Lukaschenko nur der Verteidigung dienen und Belarus vor Angriffen aus der Ukraine und vor Radikalen aus Litauen und Polen schützen. Nach Einschätzung internationaler Expertinnen und Experten dienen die gemeinsamen Manöver an der Grenze zur Ukraine aber vor allem auch dazu, ukrainische Truppen im Norden als Reserve für einen möglichen Angriff zu binden.
Ausblick: Die Unabhängigkeit von Belarus steht auf der Kippe
Lukaschenko versucht sich an einem Drahtseilakt: Einerseits nutzt er die aggressive Rhetorik des Kreml gegen die Ukraine und den Westen und leistet große militärische Unterstützung für Russland. Andererseits steht er unter Druck – sowohl von seiner eigenen Bevölkerung als auch von Putin. Es ist schwierig vorherzusehen, ob der Druck Russlands irgendwann dazu führt, dass Lukaschenko trotz aller bisherigen Absagen doch noch einem Einsatz seines Militärs zustimmt. Belarus als Staat hat bereits jetzt einen hohen Preis für seine Unterstützung gezahlt und könnte durch die starke Abhängigkeit von Russland langfristig eventuell sogar seine militärische, wirtschaftliche und politische Souveränität verlieren. Denn im Februar 2023 ist ein Strategiepapier des Kreml bekannt geworden, demzufolge Russland eine schleichende Annexion von Belarus bis 2030 plant. Seit Jahrzehnten existieren Pläne eines russisch-belarussischen Unionsstaates. In dem Papier liegt der Fokus allerdings nur auf den russischen Interessen und der vollständigen Übernahme der Politik, Wirtschaft und des Militärs in Belarus. Dazu zählen der Ausbau der russischen Militärpräsenz und eine gemeinsame Kommandostruktur, eine gemeinsame Währung, eine ideologische Bildung nach russischem Vorbild, die bereits von Lukaschenko angestoßene Verdrängung der belarussischen Sprache aus dem Alltag zugunsten des Russischen oder auch die vereinfachte Ausstellung russischer Pässe an belarussische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger – ähnliche Maßnahmen wie in den annektierten ukrainischen Gebieten. Die komplette Umsetzung dieses Strategiepapiers würde allerdings die Auflösung von Belarus als unabhängigem Staat bedeuten und wäre wohl weder im Sinne von Machthaber Lukaschenko noch im Interesse der Bevölkerung.
*Die Autorin hat den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.