Peter Rudolf

Im Sinne des Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz besteht ein Sieg aus drei Elementen: (1) den relativ größeren Verlusten des Gegners, (2) dem Verlust seiner Kampfmoral und (3) dem Eingeständnis dieser Verluste, insofern er die mit dem Krieg verfolgten politischen Zwecke aufgibt.

Taktische und operative Gewinne sind zwar die Voraussetzung für einen strategischen Sieg, aber sie führen nicht notwendigerweise dazu (erinnert sei an die Antwort eines nordvietnamesischen Offiziers auf die Bemerkung eines amerikanischen, die USA hätten alle Schlachten in Vietnam gewonnen: „Das mag sein, das ist aber auch irrelevant.“)[1]

Gegenwärtig führen Russland und die Ukraine einen Abnutzungskrieg, den beide Seiten mit Maximalzielen verfolgen. Diese sind nur mit einem Sieg über die andere Seite zu erreichen – auf ukrainischer Seite lautet das Maximalziel die Wiedererlangung jener Gebiete, die 2014 und 2022 verloren wurden, auf russischer Seite die Eroberung großer Teile der Ukraine und ihre Zerstörung als souveränen Staat. Wenn eine oder beide Seiten auf das Ziel eines vollständigen Sieges verzichten und sich mit einem begrenzten Sieg begnügen würden, Russland mit der Eroberung des Donbass, die Ukraine mit dem Zurückdrängen Russlands auf die Linie vor dem 24. Februar, wäre die Konstellation eine andere. Aus spieltheoretischer Perspektive geht es in einem Abnutzungskrieg besonders auch um die Demonstration von Stärke und der Entschlossenheit, zu einer Aufgabe nicht bereit zu sein. Daher sind beide Seiten bemüht, ihre Verluste möglichst intransparent zu halten und in ihrer Rhetorik Abstriche an ihren Positionen zu vermeiden.

Voraussetzungen eines vollständigen oder partiellen Sieges der Ukraine

Die Erwartung, die Ukraine wäre in der Lage, Russland militärisch aus den 2022 besetzten Gebieten zurückzudrängen, setzt eine Veränderung der militärischen Kräfteverhältnisse voraus. Die Ukraine würde eine beträchtliche Menge an Luftverteidigungssystemen benötigen, weit mehr gepanzerte Fahrzeuge und Panzer, einen verlässlichen Zustrom an Munition und offensive Luftkampffähigkeiten. Ukrainische Kräfte müssten entweder den russischen Kräften so hohe Verluste zufügen, dass Russland die Truppen trotz einer höheren Mobilisierungsreserve nicht auffüllen kann, oder in der Lage sein, im schnellen mechanisierten Gefecht die russischen Truppen auszumanövrieren. Ein anderer Weg zum Sieg könnte sein, dass sich Putins Kalkül aufgrund der militärischen Verluste und der Scheu vor einer Generalmobilmachung sowie des westlichen wirtschaftlichen Drucks ändert und er das Ziel einer Unterwerfung der Ukraine als unrealistisch erkennt und aufgibt.

Selbst wenn westliche Staaten in der Lage wären, über längere Zeit eine die militärischen Kräfteverhältnisse entscheidend ändernde Menge an offensivfähigen Waffen zu liefern und dafür die entsprechende Produktion hochzufahren, bleibt die Frage: Wären sie im Interesse eines militärischen Sieges der Ukraine bereit auszutesten, wo am Ende die roten Linien Putins liegen, bei deren Überschreitung Russland mit einer horizontalen (Ausweitung des Kriegsgebietes) oder vertikalen Eskalation (Einsatz von Nuklearwaffen) reagieren würde? Dieses Szenario setzt daher voraus, dass die USA, deren Unterstützung für die Ukraine entscheidend ist, ihr Risikokalkül im Balanceakt zwischen Stärkung der Ukraine und Vermeidung eines Krieges mit Russland ändern. Die US-Administration müsste zu der Überzeugung gelangen, dass die mit einer intensivierten militärischen Unterstützung der Ukraine verbundenen Eskalationsrisiken als hinnehmbar erscheinen, solange Putin nicht ganz in die Ecke getrieben wird. Bislang nimmt die Biden-Administration das Risiko einer nuklearen Eskalation ernst und orientiert ihre Politik danach aus.

Russlands nukleare Option als Trumpfkarte

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Putin den Einsatz taktischer Nuklearwaffen oder die explizite Drohung mit einem solchen Einsatz nutzt, um einer sich für Russland verschlechternden Lage zu begegnen und die Konfliktdynamik zu russischem Vorteil zu verändern. Niemand kann vorhersagen, wie sich Putin entscheiden wird, wenn er zwischen der Zurückdrängung Russlands aus den besetzten Gebieten in der Ostukraine oder gar dem Verlust der Krim und einer nuklearen Eskalation wählen müsste. Verschiedene Varianten sind möglich: demonstrativer Einsatz in der Atmosphäre über der Ukraine; der Einsatz gegen eine ukrainische Stadt, um über den elektromagnetischen Impuls die Elektrizitätsversorgung etwa Kiews lahmzulegen; ein Einsatz gegen ukrainische Verbände auf dem Schlachtfeld. Putin müsste in seiner Nutzen-Kosten-Kalkulation abwägen, ob der mögliche, aber keinesfalls sichere Erfolg nuklearen Zwangs oder der militärische Nutzen die Reputationskosten aufwiegen, die sich für Russland aus der Verletzung des nuklearen Tabus ergeben könnten, gerade auch unter jenen Ländern im globalen Süden, die sich bislang nicht gegen Russland gestellt haben.

Geostrategische Konsequenzen eines russischen beziehungsweise ukrainischen Sieges

Sollte Russland siegen, ist eine Reihe geostrategischer Entwicklungen denkbar. Die USA als europäische Schutzmacht würden ihre Präsenz eher ausbauen als zurückfahren, die NATO befände sich in einer dauerhaften Konfrontation mit Russland. China könnte den russischen Sieg als weiteren Schritt auf dem Weg zu einer multipolaren Weltordnung ansehen und verstärkt die eigene revisionistische Agenda betreiben. Die EU wäre gespalten zwischen jenen Ländern, die auf Härte gegen Russland setzen, und jenen, die realpolitisch argumentierend zu einem Modus Vivendi mit Russland finden wollen.

Ein Sieg der Ukraine hätte vermutlich eine Reihe positiver Auswirkungen auf die Sicherheitsordnung in Europa: eine Schwächung Russlands, die das Risiko eines erneuten Angriffs auf die Ukraine oder gar einer Bedrohung von NATO-Staaten verringern würde, vielleicht gar die Hinwendung Russlands zu einer auf Beschwichtigung setzenden Politik gegenüber der EU. Eine militärische Niederlage Russlands wäre ein deutlicher Beleg für die konventionelle Schwäche des russischen Militärs. Zu erwarten wäre in diesem Fall jedoch, dass Nuklearwaffen eine weit stärkere Rolle in der russischen Militärstrategie gegenüber der NATO gewännen. Innerhalb der NATO würde vermutlich eine Diskussion über die Rolle eigener taktischer Kernwaffen ausbrechen. Die Konfrontation in Europa hätte dann eine stark nukleare Dimension.


[1] Bartholomees, J. Boone 2008: Theory of Victory. In: Parameters 38 (2): 25-36.

*Dieser Text erschien in: Werkner, Ines-Jacqueline et al. (Hrsg.): Wege aus dem Krieg in der Ukraine. Szenarien – Chancen – Risiken, Heidelberg: heiBOOKS, 2022 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 5).