Lotta Mayer

Am 24. März 2022, einen Monat nach dem Beginn der militärischen Offensive Russlands gegen die Ukraine, haben die europäischen Staats- und Regierungschefs in der Sitzung des Europäischen Rates den „Strategischen Kompass“ gebilligt. Dieses Dokument (betitelt „Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung – Für eine Europäische Union, die ihre Bürgerinnen und Bürger, Werte und Interessen schützt und zu Weltfrieden und internationaler Sicherheit beiträgt“) soll die neue Grundlage für die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU bilden.

Obwohl bereits seit Sommer 2020 in Vorbereitung befindlich, ist dieses Grundlagendokument deutlich geprägt von der Zäsur, die „[d]ie Rückkehr des Krieges nach Europa“ (Strategischer Kompass) bildet. (Wie stark genau, wäre durch eine detailliertere, vergleichende Analyse des letzten Entwurfs vor dem offenen russischen Einmarsch ins Kernland der Ukraine – im Unterschied zur Annexion der Krim und der verdeckten Präsenz im Donbass seit 2014 – und dem finalen Dokument herauszuarbeiten.) Entsprechend drängt sich die Frage auf, ob und wie die europäische Reaktion auf Russlands Politik gegenüber der Ukraine seit 2004, d.h. seit der „Orangenen Revolution“, die zu einer stärkeren West-Orientierung der Ukraine einschließlich des Wunsches, der NATO beizutreten, führte, oder spätestens 2014 eine andere gewesen wäre, hätte die EU diesen Strategischen Kompass schon damals beschlossen gehabt. Und falls ja, inwiefern (und nach welchen Kriterien) diese dann auch eine „bessere“ gewesen wäre. (Denn genau das muss ja das Ziel einer neuen Strategie sein – sonst wäre sie schlicht überflüssig.)

Nun sind diese Fragen hypothetisch, jede Antwort wäre spekulativ. Dennoch eröffnen sie eine weiterführende Perspektive auf das Dokument: Nämlich die, zu fragen, was für ein Verständnis von Konflikten, Konfliktursachen, Eskalationsprozessen und möglichen Wegen der Konfliktbearbeitung und -beendigung ihm zugrunde liegt. Denn von diesem Verständnis hängt ab, welche Handlungsmöglichkeiten überhaupt aufscheinen und welche davon als sinnvoll erscheinen, bildet es doch einen zentralen (und oft eher impliziten, nicht-thematischen) Bestandteil der Situationsdefinition der politischen Akteure, auf deren Grundlage der Prozess der Handlungskonstruktion erfolgt (vgl. grundlegend Herbert Blumer). Entsprechend lohnt es sich, den „Strategischen Kompass“ mit diesem Blick zu lesen; derart lassen sich auch ein paar konkretere Hypothesen gewinnen, inwiefern er bei einem früheren Vorliegen die Reaktion auf des eskalierenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vielleicht verändert hätte.

Konfliktverständnis

Blickt man zunächst auf den Konfliktbegriff, so fällt auf vor allem auf, dass er im „Strategischen Kompass“ zwar häufig verwendet wird, jedoch nie definiert; zudem steht er scheinbar gleichberechtigt neben Ausdrücken wie „Spannungen“, „Krise“ und „Bedrohungen“, oder wird gar zum Teil einer eher disparat anmutenden Aufzählung wie etwa „Konflikte, Truppenaufmärsche und Angriffe sowie Ursachen für Instabilität“, die allesamt „Sicherheitsbedrohungen“ darstellen. Entsprechend fällt bei der Analyse der Handlungsziele immer wieder das Stichwort der „Konfliktverhütung“. Konflikte erscheinen derart als etwas, das per se eine Bedrohung ist und vermieden werden muss. 

Konfliktsoziologisch betrachtet allerdings ist das zu kurz gesprungen. Konflikte stellen in diesem an Georg Simmel anschließenden Verständnis einen nicht nur ganz alltäglichen, sondern auch unvermeidbaren – und mehr noch: unverzichtbaren – Teil des sozialen Zusammenlebens egal welcher Größenordnung dar. Sie werden in einem ganz allgemeinen Sinne als unvereinbare (bzw. den Beteiligten unvereinbar erscheinende) Positionen verstanden – egal ob es dabei um „Interessen“ oder „Werte“ geht, um zwei Stichworte aus dem Strategischen Kompass aufzugreifen, und welche auch immer dies konkret sein mögen. Diese Divergenz kann „latent“ sein, also unausgesprochen, den Beteiligten vielleicht nicht einmal bewusst, oder „manifest“. Solche Differenzen sind alltäglich, egal ob in kleinen sozialen Zusammenhängen wie der Familie oder in größeren (das wissen wir alle aus unserer Alltagserfahrung). Sie sind auch unvermeidlich, und dies umso mehr, je differenzierter und komplexer soziale Zusammenhänge sind – schließlich besteht in einer solchen Gruppe oder Gesellschaft Raum für die Entwicklung unterschiedlicher Weltsichten und politischer Positionen, unterschiedlicher Statuspositionen und Bedürfnisse, und deren harmonische Passung zueinander istkeineswegs selbstverständlich (oder auch nur wahrscheinlicher als das Gegenteil). Konflikte sind damit ein unhintergehbarer Bestandteil des Sozialen; und mehr noch (so Simmel): Sie sind unverzichtbar. Denn Konflikte schaffen und erhalten zum einen Distanz, und erst so entsteht eine differenzierte soziale Struktur, die auch Freiheitsgrade für die individuelle Entwicklung der Einzelnen bietet. Zum anderen sorgen Konflikte dafür, dass diese Strukturen wandelbar und die Positionen in ihnen tendenziell offen bleiben, und damit auch Positionen von Macht, Herrschaft und Einfluss nicht auf immer und ewig von denselben okkupiert werden (so neben Simmel insbesondere Ralf Dahrendorf). So gesehen sind Konflikte nicht nur ein unvermeidbarer Teil sozialen Zusammenlebens, sondern vielmehr ein unbedingt erforderlicher Bestandteil eines pluralen, demokratischen Gemeinwesens – und ebenso lebendiger, gleichberechtigter internationaler Beziehungen.

Entsprechend gelten (vereinfacht gesprochen) in der Konfliktforschung nicht Konflikte als solche als problematisch, sondern nur bestimmte Typen oder Verlaufsformen – nämlich insbesondere solche Konflikte, die mit (massivem) Einsatz von Gewalt ausgetragen werden bzw. ein hohes Potential für eine solche Eskalation aufweisen (und dabei auch noch schwer zu befrieden sind). Entsprechend richtet sich der Blick (je nach Forschungsrichtung) auf Prozesse und Dynamiken der gewaltsamen oder gar kriegerischen Eskalation und/oder strukturelle Eigenschaften von Konflikten oder Kontexten von Konflikten, die förderliche Bedingungen (oder gar Determinanten) für eine solche Eskalation darstellen. Auf der Seite der Konfliktbearbeitung geht es dann entsprechend kurzfristig darum, bereits eskalierte Konflikte wieder zurück in geregelte, gewaltvermeidende Austragungswege zu leiten; mittelfristig darum, entsprechende Verfahren des friedlichen Konfliktaustrags zu etablieren bzw. zu festigen; und langfristig darum, die strukturellen Gegebenheiten, die der Entstehung von Konflikten mit hohem Eskalationspotential zugrunde liegen bzw. die gewaltsame Eskalation von Konflikten fördern, zu verändern. 

Nimmt man diese wissenschaftliche Ausgangslage ernst, erscheint es nicht nur als schlicht sachlich falsch, sondern auch als von einem unterkomplexen Demokratieverständnis zeugend sowie in der Konsequenz potentiell kontraproduktiv,wenn der „Strategische Kompass“ Konflikte per se als Bedrohung und als etwas, dessen Entstehung vermieden werden muss, behandelt. Vielmehr wäre zunächst zu fragen, inwiefern und unter welchen Bedingungen welcher „Typ“ vonKonflikten eine Bedrohung für die „Sicherheit, Werte und Interessen“ der EU, ihrer Mitgliedsstaaten und ihrer Bürger darstellt, um hier zielgenau, rechtzeitig und in angemessener, unintendierte Nebenfolgen (Robert K. Merton) vermeidender Art und Weise reagieren zu können – mit kurz-, mittel- und langfristigem Zeithorizont. Um dies tun zu können, bedarf es einer differenzierten Analyse von Konflikten: ihrer strukturellen Ursachen, der direkt und indirekt beteiligten Akteure, und ihrer möglichen Verläufe.

Verständnis von Konflikt- und Eskalationsursachen

Das erste Kapitel des „Strategischen Kompass’“ bildet eine „umfassende EU-Bedrohungsanalyse“. Sie enthält zum einen eine Skizze verschiedener konkreter oder potentieller Bedrohungslagen „von Terrorismus, gewaltorientiertem Extremismus und organisierter Kriminalität bis hin zu hybriden Konflikten und Cyberangriffen, der Instrumentalisierung irregulärer Migration, Waffenproliferation und der zunehmenden Schwächung der Rüstungskontrollarchitektur“. Zum anderen handelt sie in knappen Bemerkungen Gegebenheiten ab, die man analytisch als Konfliktursachen und/oderkonfliktverschärfende bzw. eskalationsförderliche Bedingungen bezeichnen kann, nämlich Klimawandel, autokratische Regime, „finanzielle Instabilität und extreme soziale und wirtschaftliche Unterschiede“. 

Dem ist zunächst uneingeschränkt zuzustimmen. Auffällig ist aber, dass das Dokument dem Klimawandel verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit in unterschiedlichen Kapiteln widmet, ihn wiederholt sowohl als Bedrohung und zu adressierendes Problem anspricht und betont, dass seine Bekämpfung auch aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus hohe Priorität haben müsse („der Klimawandel ist ein Bedroungsmultiplikator“). Dagegen werden sowohl autoritäre Regime als auch die Frage nach sozialer bzw. wirtschaftlicher Ungleichheit und Armut bestenfalls stiefmütterlich behandelt: Autoritäre Regime werden einmal allgemein und dann noch einmal am Beispiel von Belarus konkret als Problem benannt. Schon in den Fällen von China und Russland dagegen wird, obwohl das Papier sich ihnen recht intensiv widmet, deren politische Verfasstheit allenfalls verklausuliert angesprochen („systemischer Rivale“ China). Ansonsten fehlt jegliche Benennung autoritärer Regime, und die im Kontext des Kriegs in der Ukraine virulent gewordene Frage nach den Risiken und Nebenwirkungen intensiver Handelsbeziehungen und anderer politischer Kooperation (etwa im Rahmen der „Bekämpfung der irregulären Migration“) mit autoritären Staaten – zugespitzt: war es vielleicht bestenfalls Wunschdenken, anzunehmen, dass „Wandel durch Handel“ immer einen Wandel in Richtung von mehr Demokratie, Freiheit und Menschenrechten bedeute? – klingt im besten Fall implizit an. Auch ökonomische Ungleichheit findet kaum Erwähnung: Neben der oben zitierten Stelle wird noch ein einziges Mal auf „Armut“ verwiesen (fast schon klischeehaft mit Bezug auf Afrika), der Ausdruck „Ungleichheit“ wird nur in Bezug auf Geschlechterverhältnisse verwendet. Kurz: Ökonomische Ungleichheit als zentrale (strukturelle) Konfliktursache und Eskalationsbedingung wird fast völlig ausgeblendet; entsprechend wird sie auch nicht als ein Problem behandelt, das zu adressieren wäre. Dies gilt sowohl auf globaler Ebene (das Wohlstandsgefälle zwischen dem globalen Norden einschließlich der EU wird geflissentlich ignoriert) als auch auf der Ebene verschiedener Weltregionen und innerhalb von Nationalstaaten – seien sie EU-Mitglieder oder nicht. 

Dies steht in einem geradezu eklatantem Widerspruch zu den Befunden der Friedens- und Konfliktforschung. Diese verweist zum einen seit Jahrzehnten (gemeinsam mit der v.a. politikwissenschaftlichen Forschung zu Autokratien) darauf, dass autoritäre Regime weit häufiger zwischenstaatliche Kriege führen als Demokratien („Demokratischer Friede“), und auch in Bezug auf das Eskalationsrisiko innerstaatlicher Konflikte der Regimetyp – und insbesondere Phasen der Transition – eine wichtige Rolle spielt (allerdings ist hier der Zusammenhang etwas komplizierter; v.a. Transitionsprozesse sind eskalationsanfällige Phasen). Beide Befunde helfen im bei der Analyse und Erklärung des gegenwärtigen Kriegs in der Ukraine. Zum anderen zeigt die Friedens- und Konfliktforschung (gemeinsam mit der v.a. Politischen Soziologie und der Ungleichheitsforschung) die vielfachen und wechselseitigen, aber durchaus komplexen Zusammenhänge zwischen Ungleichheit – insbesondere in ihrer ökonomischen Dimension – und der Entstehung, Ausweitung und (gewaltsamen) Eskalation von Konflikten, insbesondere innerstaatlichen, auf.

Nun ist die politische Rezeption von Forschungsergebnissen notwendiger- und auch legitimerweise selektiv, und die Gründe und Kriterien für die Selektion sind vielfältig. Im vorliegenden Fall liegt die Frage nahe, ob es vielleicht schlichtweg einfacher ist, diejenigen strukturellen Konfliktursachen bzw. eskalationsförderlichen Bedingungen ins Zentrum der Bedrohungsanalyse zu rücken, auf deren Definition als Problem, das bekämpft werden muss, man sich EU-intern schon einigermaßen (!) geeinigt hat, als sich Gegebenheiten zuzuwenden, die man bislang aus gewichtigenGründen geflissentlich ignoriert. Sowohl der Klimawandel als auch die Frage ökonomischer Ungleichheit sind strukturell bedingt im kapitalistischen Wirtschaftssystem, das die Mitgliedsländer der EU und die EU selbst zutiefst prägt, auf dem sie in ihrer jetzigen Form basieren und dessen Wandel tiefgreifende und nicht absehbare Veränderungen zur Folge hätte(vgl. Wolfgang Streecks Analyse des „Interregnums“). Entsprechend stehen sie durchaus in einem Spannungsverhältnis zu zumindest einem Teil der „Interessen“ der EU, die der „Strategische Kompass“ verteidigen möchte (dabei aber bezeichnenderweise auch nicht näher definiert oder erläutert).

Während nun aber im Fall des Klimawandels der durchaus mühsame und konflikthafte Prozess der politischen und gesellschaftlichen Anerkennung als Problem (auch in wirtschaftlicher Hinsicht) schon weiter fortgeschritten ist, bis hin zu dem entscheidenden Punkt, an dem eine grobe Strategie und ungefähre Maßnahmen dagegen feststehen, ist mit Blick sowohl auf autoritäre Regime als auch auf ökonomische Ungleichheit das Gegenteil der Fall. Für den Umgang mit autoritären Regimen – weder mit gefestigten Autokratien noch mit Tendenzen der (weiteren) Autokratisierung in bislang eher demokratisch verfassten Staaten – fehlt der EU bislang eine konsistente Strategie; dies gilt selbst im Umgang mit autokratischen Tendenzen in Mitgliedsstaaten der EU. Hier ist eher ein Lavieren in Abhängigkeit von Interessenlagen und (tagespolitischen) Opportunitäten zu beobachten als ein konsistenter Ansatz, der den proklamierten Werten der EU entspräche. Angesichts einerseits eben dieser Tendenzen innerhalb der EU und andererseits wirtschaftlicher Verflechtungen mit autoritär regierten Staaten ist dies auch wenig verwunderlich. 

Ähnliches gilt für das Problem ökonomischer Ungleichheit, die sowohl global – gerade auch zwischen der EU und anderen Weltregionen – als auch innerhalb von Staaten einschließlich von EU-Mitgliedsstaaten in eklatantem Maß besteht und (ganz grob und teils vereinfachend gesprochen) in der Tendenz zunimmt: Ungeachtet bahnbrechender wissenschaftlicher Werke (wie etwa Thomas Pikettys empirischer Langzeitstudie nicht nur des Ausmaßes ökonomischer Ungleichheit, sondern auch ihres Potentials, politische und gesellschaftliche Systeme in ihren Grundlagen zu erschüttern), ungeachtet ungleichheitsbezogener sozialer Protestbewegungen in und außerhalb Europas, von links und von rechts, ungeachtet sogar der Mahnungen seitens höchster wirtschaftspolitischer Akteure, dass die globalen wirtschaftlichen Ungleichgewichte letztlich die Stabilität der Weltwirtschaft und des internationalen Systems gefährdeten (etwa seitens der IWF-Präsidentin Christine Lagarde), bleibt ökonomische Ungleichheit weitgehend ein Nicht-Thema auf EU-Ebene. (Erkennbar u.v.a. daran, dass sich in den vier aktuellen „Hauptprioritäten“ das Thema soziale bzw. ökonomische Gerechtigkeit nur als ein Unteraspekt findet – „Verwirklichung eines klimaneutralen, grünen, fairen und sozialen Europas“ –, und die entsprechenden Ausführungen ebendieses Thema bis auf das Stichwort „erschwingliche Energie“ völlig ausblenden.)

Auch das ist nicht überraschend: Die damit unvermeidbarer Weise verbundenen (Verteilungs-)Fragen sind überaus unbequem. Etwa: Was folgt aus den zwar unintendierten, aber nichtsdestotrotz desaströsen Nebenwirkungen mancher ökonomischer Aktivitäten oder Suventionen der EU auf ökonomische Strukturen im globalen Süden (etwa: leergefischte Meere, subventionierte Agrarprodukte, aufgekaufte Agrarflächen oder exportierte Alttextilien, die die einheimischen Fischer/Kleinbauern/Textilfabrikanten/… ihrer Lebensgrundlage berauben), die derart auch zur Entstehung und Eskalation von Konflikten im globalen Süden beitragen? Und auch auf mehrfache Weise zu den „irregulären“ Migrationsbewegungen, welche die EU als Problem betrachtet? Hieße hier Prävention von Konflikten und „Bekämpfung von Fluchtursachen“ nicht letztlich auch, auf bestimmte ökonomische Aktivitäten bzw. deren Förderung zu verzichten? Oder: Wie soll der Wohlstand zwischen und innerhalb der EU-Staaten verteilt werden – etwa angesichts der seit der Finanzkrise 2008 gewachsenen Ungleichgewichte zwischen den Staaten im Zentrum und im Süden der EU oder angesichts des empirischen Befunds, dass grob seit Mitte der 2000er Jahre bspw. in Deutschland das Bruttoinlandsprodukt, die Unternehmensgewinne, die oberen Einkommen, die Vermögenskonzentration und die Armutsquote gleichermaßen ansteigen, d.h. die aus dem Wachstum resultierenden Zugewinne ganz offensichtlich überproportional den ohnehin schon ökonomisch Privilegierten zukommen, während die untere Hälfte der Bevölkerung sogar an Wohlstand einbüßt? Usw.

Während sich also im Fall des Klimawandels eine Einbeziehung des Themas in den „Strategischen Kompass“ auf einen gewissen Konsens innerhalb der EU stützen kann und zugleich die Position der EU-internen Koalition, die sich für stärkeren Klimaschutz engagiert, in der Auseinandersetzung mit den diesbezüglich eher skeptischen oder „bremsenden“ Akteuren hilft, birgt die Thematisierung von ökonomischer Ungleichheit und Beziehungen zu autokratischen Staaten reichlich Konfliktpotential sowohl innerhalb der EU selbst als auch mit Staaten außerhalb der EU. Insofern ist es realpolitisch völlig nachvollziehbar, dass diese Themen in die Bedrohungsanalyse im Rahmen eines offiziellen und öffentlich zugänglichen Dokuments wie des „Strategischen Kompass“ keinen Eingang finden. So wird der „Strategische Kompass“ unfreiwillig zum Zeugnis einer Strategie der Vermeidung von Konflikten innerhalb der EU.

Jedoch bedeutet dies, dass die entsprechenden Sachverhalte – im Unterschied zum Klimawandel – konsequenterweise auch nicht Eingang in die Handlungsstrategien finden, die im „Strategischen Kompass“ skizziert werden: Das entsprechende Kapitel ist „Stärkung der Resilienz gegenüber Klimawandel, Katastrophen und Notsituationen“ betitelt – von der Förderung ökonomischer Gerechtigkeit oder der Entwicklung einer Strategie des Umgangs mit autoritär regierten Staaten ist keine Rede. Daraus wiederum folgen Handlungsempfehlungen, die nur in Bezug auf Klimawandel Ursachen von Konflikten und Konflikteskalation adressieren, und sich ansonsten auf die Eindämmung von bereits eskalierten Konflikten mit militärischen Mittel bzw. auf die Milderung der humanitären Folgen derselben beschränken. Beides ist selbstverständlich richtig und wichtig – es wäre absurd, zu glauben, dass sich allein mit der „richtigen“ Politik der EU Konflikteskalationen weltweit vermeiden ließe (denn dies würde implizieren, dass die EU entweder allein bzw. zumindest entscheidend all diese Konflikt bzw. deren Eskalation verursacht, oder aber über eine Art Allmacht zur nicht-militärischen Befriedung jedweder Konflikte verfügte). 

Dennoch ist es aus einer konfliktanalytischen Perspektive und der einer daran anschließenden friedensethischen Bewertung zu kurz gesprungen: Ziel darf nicht nur die Eindämmung und Linderung sein, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, also die kurzfristige Perspektive. Vielmehr muss – und dies ist eigentlich auch ein Anliegen des „Strategischen Kompass’“, auch wenn er es (siehe oben) aus konfliktanalytischer Perspektive unglücklich formuliert – das Ziel auch und insbesondere die mittel- und längerfristige Prävention zumindest der Eskalation von Konflikten (und teilweise sogar ihrer Entstehung) sein. Das aber erfordert nicht nur klimatische (oder breiter: ökologische) Nachhaltigkeit, sondern auch ein (wie auch immer genau zu bestimmendes) Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit und politischer Teilhabe. Das wiederum verlangt jedoch sowohl einen sozio-ökonomischen Wandel innerhalb der EU und in ihrem Verhältnis insbesondere zum globalen Süden als auch eine Außenwirtschaftspolitik, die die Bemühungen um Förderung von Menschenrechten und Demokratie weltweit nicht konterkariert. Für letzteres wäre gerade auch der gegenwärtige Krieg in der Ukraine, auf den der „Strategische Kompass“ eingangs so deutlich Bezug nimmt, ein Paradebeispiel. Gerade hier wäre dann zu konstatieren, dass der vorliegende „Strategische Kompass“ eventuell die kurzfristige Reaktion der EU auf den bevorstehenden bzw. erfolgenden Angriff Russlands beeinflusst hätte, und zwar mutmaßlich im Sinne eines größeren militärischen Präsenz-Zeigens an den Außengrenzen und schnelleren Waffenlieferungen. Ob er aber dazu geführt hätte, die Intensivierung der europäischen Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen aus Russland, die sich nun retrospektiv als Finanzhilfe auch zur Vorbereitung und Fortführung eines Angriffskriegs entpuppt (aus der man selbst dann, wenn man dies plötzlich will, nicht ohne weiteres wieder aussteigen kann), zu verhindern, darf bezweifelt werden (bzw. wäre allenfalls als erfreuliches Nebenprodukt einer eventuell früher begonnenen Dekarbonisierung der Wirtschaft zustande gekommen). Eigentlich sollte das auch ein Anlass sein, systematisch darauf zu reflektieren, welche Regime die EU eigentlich durch ihre auf eigene wirtschaftliche Interessen zentrierte Außenwirtschaftspolitik stützt – und wie sie auch sonst unbeabsichtigt dazu beiträgt, Verhältnisse zu schaffen, die ihr dann als Bedrohung gegenübertreten. Genau dazu sollte ein „Strategischer Kompass“ dienen, auch wenn es unbequem ist. Eine „Bedrohungsanalyse“ dagegen, die insbesondere in ihren Ausblendungen mehr politischen Opportunitäten als dem Versuch, die empirische Realität tatsächlich zu verstehen und aufzuklären, verpflichtet ist, birgt das Risiko, dass die darauf basierenden Handlungen und Unterlassungen unintendierterweise dazu führen, Bedrohungen zu erhalten oder zu schaffen, statt sie zu vermindern.