Ines-Jacqueline Werkner

Der gerechte Frieden – eine Orientierung im Krieg in der Ukraine?

Putins Krieg gegen die Ukraine stellt die bislang größte Gefährdung des Friedens in Europa seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, wenn nicht sogar seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dar. Er markiert eine Zäsur in der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung. Mit ihm gehören die Ära der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) und der Charta von Paris (1990) unwiderruflich der Vergangenheit an. Ist damit auch die evangelische Friedensethik an einem Wendepunkt angelangt?

Die Friedensdenkschrift der EKD (2007) mit ihrem Leitbild des gerechten Friedens trägt einen starken liberalen Impetus, geprägt von den politischen Umbrüchen von 1989/90 und der Friedensdividende in Europa. Konstellationen wie die derzeitige Situation mit einem Angriffs- und Eroberungskrieg, der sich eher mit Kriegen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vergleichen lässt, hatte sie jedenfalls nicht im Blick.

Angesichts dieser neuen politischen Realitäten werden Stimmen laut, die ein Überdenken der Grundpositionen der evangelischen Friedensethik bzw. ihr Revirement fordern. Das in der Denkschrift entfaltete Leitbild des gerechten Friedens basiert auf drei Grundpfeilern: (1) dem Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung, (2) dem Verständnis einer Friedensordnung als Rechtsordnung und (3) der Beschränkung militärischer Gewalt zur Rechtsdurchsetzung. Welche Orientierungskraft können diese nun angesichts des Krieges in der Ukraine noch entfalten? Wo tun sich Dilemmata und Aporien auf? 

 Neue politische Realitäten 

Die „Charta von Paris für ein neues Europa“ besiegelte im November 1990 – getragen von 30 Staaten Europas, den USA und Kanada – nach vier Jahrzehnten den Kalten Krieg. Das Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West sollte Raum geben für Perspektiven auf eine gesamteuropäische Friedensordnung: 

„Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.“ 

Diese Hoffnungen währten nur kurz. Spätestens mit dem russisch-georgischen Krieg 2008 ist in Europa die Geopolitik zurückgekehrt, die nun im Ukrainekrieg kulminiert. Viele sprechen von einem „neuen Kalten Krieg“. Diese Metapher verharmlost allerdings die gegenwärtige Situation und hält einer Analyse nicht stand. Drei Gründe sprechen dagegen: Erstens haben wir es nicht mit einem kalten, sondern mit einem heißen Krieg zu tun. Putins Aggression gegen die Ukraine ist ein Angriffs- und Eroberungskrieg per excellence. Und keiner weiß, wie weit Putins russische Großreich-Phantasien reichen. Im Kalten Krieg haben dagegen beide Seiten ihre Einflusssphären weitgehend respektiert. Zweitensfehlt es an Rationalität und Berechenbarkeit, die man in Zeiten des Kalten Krieges selbst der kommunistischen Führung und der KPdSU unterstellen konnte. Putin mag zwar innerhalb seiner Weltsicht und Logik rational agieren, aber er hat sich zu einem einsamen Herrscher entwickelt, der Widerworte nicht duldet und keinerlei Kritik mehr erfährt. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht hier von einer „strukturelle[n] Verdummung des Autokraten“. Und drittens ist die relativ stabile bipolare Struktur des Kalten Krieges mit dem Emporkommen Chinas in der Weltpolitik einem geostrategischen Dreieck gewichen, das weitaus labiler ist. 

Die evangelische Friedensethik bleibt von diesen neuen politischen Konstellationen nicht unberührt. Insbesondere stellen sich verstärkt Fragen nach dem Umgang mit Autokraten und autoritären Regimen. Im Kalten Krieg dominierte die Doppelstrategie von Abschreckung und Entspannung. Diese war zu jener Zeit an Rahmenbedingungen gekoppelt, die in dieser Form heute nicht mehr existieren; hier wird es neuer Formate bedürfen. Und auch der in der Friedensdenkschrift verankerte starke Fokus auf liberale Institutionen greift deutlich zu kurz. Notwendig sind Strukturen, die Russland mit einbinden, so voraussetzungsreich dieser Weg und so weit entfernt diese Vorstellung gegenwärtig auch sein mag. Zudem sind dem weltpolitischen Akteur China und dem geostrategischen Dreieck USA – Russland – China für die europäische Friedensordnung und Sicherheitsarchitektur größere Aufmerksamkeit zu schenken und in der Agenda mit zu berücksichtigen.

Vom Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung zum Weg der Gewaltfreiheit

Der Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung gilt als einer der zentralen Grundpfeiler der Friedensdenkschrift. Spätere Stellungnahmen der EKD gehen noch darüber hinaus. So setzt die Friedenssynode der EKD von 2019 konsequent auf den „Weg der Gewaltfreiheit“. Die EKD-Synodalen, die die russische Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine bereits vor Augen hatten, konstatieren in ihrem Kundgebungstext: 

„Die Erfahrung zeigt, dass Menschen, Gemeinschaften und Staaten in der Lage sind, Probleme und Konflikte in allen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens auf konstruktive und gewaltfreie Weise zu bearbeiten. Es gibt erprobte Konzepte und Instrumente dafür, Wege aus Gewalt und Schuld zu finden, einander vor Gewalt zu schützen und Versöhnungsprozesse zu gestalten – in Friedenszeiten wie in Krisen- und Kriegssituationen“. 

Erstaunlich wenig Konkretes hört man aber diesbezüglich angesichts des Krieges in der Ukraine. Denn in der Tat lässt sich mit Johannes Fischer fragen, „was die erprobten Konzepte und Instrumente, vor Gewalt zu schützen und Versöhnungsprozesse zu gestalten, in der aktuellen Situation in der Ukraine sind“ (zeitzeichen.net, 02.03.2022). Hier scheinen normative Postulate und politische Realitäten weit auseinanderzudriften. Gefordert ist eine Reflexion der Möglichkeiten, aber eben auch der Grenzen ziviler Konfliktbearbeitung. Gegen kriegsbereite Autokraten, die keine Rücksicht auf ihre Bevölkerungen nehmen (müssen), die bereit sind, jedes Mittel einzusetzen, die weder Kriegsopfer scheuen noch sich von humanitären Katastrophen beeindrucken lassen, dürfte gewaltfreier Widerstand nur eine begrenzte Chance haben. 

Und auch beim inter- und intrareligiösen Dialog – eine originär kirchliche Aufgabe – lassen sich die „erprobte[n] Konzepte und Instrumente“ vermissen. Dabei hätte eine Intensivierung des Dialogs mit der Russisch-Orthodoxen Kirche ein immenses friedensstiftendes Potenzial. Der Moskauer Patriarch Kirill I. dürfte gegenwärtig zu den ganz wenigen Akteuren gehören, die noch Einflussmöglichkeiten auf Putin haben. Bisher stellt sich der russische Patriarch nicht gegen Putins Krieg in der Ukraine. Im russisch-georgischen Krieg dagegen betonten beide damaligen Kirchenoberhäupter noch die dramatische Natur der militärischen Konfrontation, in der Orthodoxe gegeneinander das Schwert erheben. Diese Bemühungen gipfelten in einem gemeinsamen Aufruf. Daran anzuknüpfen und Kirill I. zu diesem Schritt zu bewegen, wäre eine der dringlichsten kirchlichen Aufgaben, auch der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hier ließe sich der plakative Aufruf nach Deeskalation und Versöhnung konkret machen. 

Friedensordnung als Rechtsordnung 

Der zweite zentrale Grundpfeiler der Friedensdenkschrift ist die Maxime „Frieden durch Recht“. So sei die Zielperspektive des gerechten Friedens „eine kooperativ verfasste Ordnung ohne Weltregierung“ (Ziff. 86) mit einem „System kollektiver Sicherheit, wie es in der UN-Charta vorgezeichnet ist“ (Ziff. 87). Dieser rechtsethische Leitgedanke war von Anfang an angesichts der Unzulänglichkeiten des Systems der Vereinten Nationen nicht unproblematisch. Der Krieg in der Ukraine führt noch einmal deutlich vor Augen, wie sich dieses System bei einer Aggression eines ständigen Sicherheitsratsmitgliedes selbst blockiert. Resolutionen des Sicherheitsrates werden durch das Vetorecht verhindert und damit auch Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen). Und ebenso wenig greift die internationale Schutzverantwortung (R2P, Responsibility to Protect) – auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen 2005 von den Staats- und Regierungschefs einstimmig verabschiedet –, obwohl mit dem russischen Einsatz geächteter Waffen und gezielten Angriffen auf zivile Objekte Kriegsverbrechen stattfinden und die Ukraine damit als R2P-Fall einzustufen ist. Die Uniting for Peace-Resolution der Generalversammlung vom 2. März 2022, der sich 141 Staaten angeschlossen haben, stellt zwar ein starkes Signal der Weltgemeinschaft dar, ist aber im Gegensatz zu Sicherheitsratsresolutionen rechtlich nicht bindend. Das heißt: Die Rechtsnormen sind vorhanden; das Problem liegt in der fehlenden Rechtsdurchsetzung. Der Ukrainekrieg markiert diese Leerstelle in aller Deutlichkeit: Statt der Stärke des Rechts kommt hier das Recht des Stärkeren zum Tragen. Eine Konsequenz lässt sich unmittelbar ableiten: Je weniger kollektive Sicherheit gewährt werden kann, desto größer wird die Bedeutung des Rechts auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung. Die stärkere Akzentuierung der Landes- und Bündnisverteidigung in Deutschland und die geplanten zusätzlichen Investitionen für die Bundeswehr wie auch die Aufrüstungen in anderen europäischen Ländern sind genau dieser Konstellation geschuldet. Dennoch: Bei aller Schwäche des internationalen Rechts wird das Leitbild des gerechten Friedens auf seine rechtsethische Dimension nicht verzichten können. Zu überdenken wäre jedoch der unmittelbare Rechtsbezug, den auch das katholische Bischofswort zum gerechten Frieden (2000) in dieser Weise nicht kennt. 

Rechtserhaltende Gewalt 

Ausgehend von der rechtsethischen Dimension ist die Ethik der rechtserhaltenden Gewalt der dritte Grundpfeiler des Leitbildes des gerechten Friedens. Und auch hier ergeben sich im Lichte des Ukrainekrieges Dilemmata, die sich insbesondere an den Waffenlieferungen an die Ukraine entfachen. Inwieweit erweisen sich diese als ethisch gerechtfertigt? Die Antwort ist nicht einfach. Einerseits greift hier die Nothilfe, die es erlaubt, bedrohte Staaten im äußersten Notfall auch militärisch zu unterstützen, „denn der Schutz des Lebens und die Stärke des gemeinsamen Rechts darf gegenüber dem ‚Recht des Stärkeren‘ nicht wehrlos bleiben“ (EKD 2007, Ziff. 102). Vor diesem Hintergrund fragt auch Heinrich Bedford-Strohm: 

„Ist es moralisch zu verantworten, den Menschen in der Ukraine in ihrem Widerstand gegen die Aggressoren nicht wirksam zu helfen? Und wirksam heißt traurigerweise: auch mit Waffen. Können wir um unseres Friedenszeugnisses willen gegen deutsche Waffenlieferungen protestieren, wenn die schlimmen Konsequenzen nicht wir, sondern die Menschen in der Ukraine zu tragen haben?“ (Zeit Online, 06.03.2022)

Andererseits gilt es aber auch, die Verhältnismäßigkeit der Folgen zu bedenken. Der Gewaltgebrauch darf nicht zu einer „Herbeiführung eines noch größeren Übels“ führen (EKD 2007, Ziff. 102). Die direkte Teilnahme der NATO an Kampfhandlungen in der Ukraine ist damit ausgeschlossen; die Gefahr eines dritten Weltkrieges wäre zu hoch. Ungeachtet dessen ist es moralisch nur schwer zu ertragen, dass wir zwar jeden Quadratmeter des Baltikums militärisch verteidigen würden, nicht aber der Ukraine beistehen können. Hier sind Staaten, die der NATO angehören und unter dem militärischen – auch nuklearen – Schutzschirm der USA stehen, deutlich privilegiert. 

Wie verhält es sich aber mit Waffenlieferungen zur Unterstützung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit? Diese Frage lässt sich im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Folgen schon weitaus schwerer beantworten: Bestehen reale Chancen, dass die Ukraine mit deren Hilfe die russische Aggression abwehren kann? Oder verlängern die westlichen Waffenlieferungen nur den Krieg und erhöhen damit auch die Zahl der Opfer? 

Die Dilemmata sind offensichtlich. Auch die Kriterien der rechtserhaltenden Gewalt führen zu keinen einfachen Antworten. Sie geben aber einen Diskursrahmen vor, innerhalb dessen – auch kontrovers geführte – Debatten zu einem ethischen Orientierungswissen beitragen können. In einem zentralen Aspekt bedarf der Ansatz rechtserhaltender Gewalt aber der Erweiterung: Neben Fragen militärischer Gewalt ist eine friedensethische Reflexion von Formen politischer Einflussnahme nötig. Das beinhaltet insbesondere Formen des politischen Zwangs wie die Sanktionspolitik. Sie bedürfen friedensethischer Bewertungsmaßstäbe, kommen Sanktionen nicht nur verschiedene Funktionen zu, sondern gehen mit ihnen auch unterschiedliche Wirkungsmechanismen einher. Die weitgehend fehlende ethische Debatte dieses Instruments – auch im Ukrainekrieg – ist Ausdruck dieser Leerstelle. 

Evangelische Friedensethik „revisited“?

Wie verhält es sich mit den Forderungen nach einer evangelischen Friedensethik revisited? Die zentralen Grundorientierungen des Leitbildes des gerechten Friedens dürften auch im Lichte des Krieges in der Ukraine weiterhin gültig sein. Dennoch erscheinen angesichts der neuen politischen Realitäten Präzisierungen und Differenzierungen, aber auch Neuausrichtungen erforderlich: 

  • Erstens muss das Leitbild des gerechten Friedens in Beziehung zu den aktuellen politischen Realitäten gesetzt werden, leiten sich daraus die zentralen ethischen Fragestellungen ab. Hier wird eine stärkere friedensethische Auseinandersetzung mit geopolitischen Konzepten und Weltbildern notwendig.
  • Zweitens sind normative Postulate und politische Realitäten aufeinander zu beziehen. Thomas Hoppe spricht mit Verweis auf Bruno Schüller von „gemischten Normen“, „in denen sich ein moralisches Werturteil mit einem empirischen Tatsachenurteil verbindet“. Erfolgt dies nicht, können friedensethische Argumentationen leicht in einen naiven Pazifismus abgleiten.
  • Drittens bedarf es weiterer Überlegungen im Hinblick auf Fragen der internationalen Rechtsdurchsetzung. Diese Forderung ist weder neu noch einfach, sind die Defizite strukturell bedingt. Hier ist der unmittelbare Rechtsbezug im Leitbild des gerechten Friedens zu überdenken.  
  • Viertens ist die Ethik rechtserhaltender Gewalt in eine Ethik rechtserhaltenden Zwangs zu überführen. Die einseitige Fokussierung auf Kriterien militärischen Gewaltgebrauchs greift zu kurz und wird den internationalen Reaktionen auf Völkerrechtsverstöße nicht gerecht.
  • Schließlich ist – auch angesichts der friedensethischen Neujustierungen im Kundgebungstext der Friedenssynode 2019 – das Selbstverständnis evangelischer Friedensethik zu überdenken: Nimmt die Kirche weiterhin am pluralistischen Konzert teil oder geht ihren Äußerungen ein interner Klärungsprozess voraus, der den inneren Pluralismus zu einer Stimme zusammenführt? Letzteres hätte erheblichen Einfluss auf die Stellung der Kirche in Politik und Gesellschaft.

*Dieser Text erscheint in der Ausgabe 12/2022 der epd-Dokumentation (22. März 2022), die kirchliche Stimmen zum Ukraine-Krieg und die Diskussionen über die evangelische Friedensethik sammelt.