Madlen Krüger

Harmonie von Orthodoxie und Staat – ein Hindernis für den Frieden?

Vitali und Wladimir Klitschko wendeten sich am 5. März 2022 an die geistlichen Oberhäupter der Welt und riefen diese dazu auf, ihrer moralischen Pflicht nachzukommen und Verantwortung für den Frieden zu übernehmen. Bisher hat das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK), der Moskauer Patriarch Kirill I., keine Stellung gegen den Krieg bezogen, geschweige denn diesen als solchen bezeichnet.

Als Unterstützer Putins hat Kirill I. maßgeblich an der Sakralisierung der politischen Agenda mitgewirkt und unterstützt seine großrussische Staatsideologie. Das geopolitische Konzept der „Russischen Welt“, der Wiederherstellung der Einheit eines geteilten Volkes, die es nach außen zu schützen gelte – insbesondere vor dem Westen – ist von Kirill I. theologisch gestützt.

Die enge Verbindung zwischen Staat und Russisch-Orthodoxer Kirche hat ihre Wurzeln im byzantinischen „Symphonia“-Konzept – einem ideellen Gleichgewicht von Staat und Kirche. Diesem Ideal näherte sich die ROK mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und vor allem unter Kirill I. immer mehr an und festigte ihre Position als bedeutendste gesellschaftliche Organisation Russlands. 

Putins Rede vom 21. Februar 2022 ist ein Beispiel dieser ideologischen „Harmonie“ von Orthodoxie und Staat. In seiner Ansprache verbindet er politisches Handeln und religiöse Argumentation. Heraus kommt eine Erzählung von einem orthodox-russischen Imperium, in dem territoriale Ansprüche, russische Kultur und Russisch-Orthodoxe Kirche untrennbar miteinander verwoben sind. Schon die Annexion der Krim 2014 legitimierte Putin religiös und hob die „heilige Bedeutung“ der Halbinsel für ein geeintes russisches Volk hervor. Seither beschwört Putin die spirituelle und historische Einheit der Ukrainer und Russen. In Putins Staatsideologie nimmt die Ukraine einen wichtigen Raum ein. Putin deutet das „Goldene Zeitalter“ der Kiewer Rus – beginnend mit Fürst Wladimir den Großen im Jahr 988 – als die Wiege der Russisch-Orthodoxen Kirche und den Anfang einer geeinten russischen Nation sowie einem starken zentralisierten russischen Staat. Teil dieser Geschichtskonstruktion ist das Narrativ der Schutzverantwortung gegenüber verfolgten Christen, das sich auch in Putins Reden vor dem Angriffskrieg wiederfindet. Für die Ukraine ist der Gründungsmythos ebenso von Bedeutung, allerdings verbindet sich damit für sie die Souveränität des Landes. Der Krieg hat eine klare religiöse Dimension. Putins religiöse Argumentation wird nicht nur von der Russisch-Orthodoxen Kirche unterstützt, sondern auch vorbereitet. 

Politische Konfliktherde und kirchliche Identität 

79 Prozent der 45 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind orthodoxe Christen. Es gibt mehrere ukrainisch-orthodoxe Kirchen, die auf Abspaltungen (1992) von der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) zurückzuführen sind. Allerdings war innerhalb der internationalen orthodoxen Kirchengemeinschaft bis vor kurzem nur die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat) (UOK-MP) aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur ROK anerkannt.

2019 hat sich die religiöse Landschaft in der Ukraine noch einmal maßgeblich verändert. Mit der Annexion der Krim und dem anhaltenden Krieg in der Ostukraine nahmen die Bestrebungen von politischer und kirchlicher Seite zu, eine unabhängige ukrainische Kirche zu etablieren, die alle orthodoxen Gläubigen in der Ukraine vereint. Die Spannungen mit Russland stärkten nicht nur das Nationalbewusstsein der Ukrainerinnen und Ukrainer, sondern führte auch zur Entfremdung von der UOK-MP. Auf Initiative des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko (2014-2019) und mit Unterstützung des Ehrenoberhauptes der Orthodoxie, Patriarch Bartholomäus von Konstantinopel, kam es zur Gründung der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU). Patriarch Bartholomäus widerrief dafür einen 350 Jahre alten Erlass, der die Ukraine dem Moskauer Patriarchat zuteilte. Die Verleihung der Autokephalie fand ausdrücklich gegen den Willen des Moskauer Patriarchen Kirill I. statt. Weder die ROK noch die UOK-MP haben die OKU bisher als unabhängige Kirche anerkannt. Seit der Gründung der OKU bestehen somit zwei konkurrierende ukrainisch-orthodoxe Kirchen, die auch die internationale Kirchengemeinschaft spalten: 

  • die 2019 gegründete Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) mit Zugehörigkeit zum Patriarchat von Konstantinopel und Zentrum in Kiew; Oberhaupt ist Metropolit Epiphanius; ihr gehören 49 Prozent der Bevölkerung an; 
  • die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK-MP) mit Zugehörigkeit zum Moskauer Patriarchat und Zentrum in Kiew; Oberhaupt ist Metropolit Onufrij; ihr gehören 14 Prozent der Bevölkerung an;
  • hinzu kommt die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK) mit Zugehörigkeit zum Papst und Zentrum in Kiew; Oberhaupt ist Metropolit Schwetschuk; ihr gehören 9 Prozent der Bevölkerung an.

Bis zum Angriffskrieg spiegelten sich die politischen Gräben zwischen Russland und der Ukraine auch in den Positionierungen der Kirchen wider. Während die OKU klar Stellung zu politischen Themen bezog und sich als nationale Kirche präsentierte, gab sich die UOK-MP unpolitisch und konzentrierte sich auf spirituelle Aussagen. So bezog die UOK-MP beispielsweise bisher nicht offiziell Stellung zur Frage, ob die Krim zu Russland oder zur Ukraine gehört.

  

Karte regionaler Zugehörigkeiten (Vergleich 2013 und 2019)

Wie positionieren sich die Kirchen seit Ausbruch des Krieges?

Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) – die Stütze Putins

Die Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche ist sehr schweigsam in diesem Krieg. Patriarch Kirill I. hat bisher nur die „Konfliktparteien“ zum Frieden aufgerufen und aufgefordert, „alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um zivile Opfer zu vermeiden“ (24.02.2022). Mit dem Hinweis auf eine gemeinsame „jahrhundertealte Geschichte“ und „gottgegebenen Gemeinschaft“ des russischen und ukrainischen Volkes, dessen Spaltungen und Widersprüche es zu überwinden gilt, um den Konflikt zu beenden, folgt er gänzlich der Linie Putins. 

In seiner Predigt am 27. Februar 2022 ist das tragende Thema erneut die Einheit innerhalb der Kirche und der Völker. Diese Einheit, die auf einer „gemeinsamen historischen Heimat“ fußt, muss vor „inneren Unruhen“ bewahrt und vor „allen Handlungen von außen“ geschützt werden. Die Gegner Russland bezeichnet er als „dunkle und feindliche äußere Kräfte“, die das Land „verhöhnen“. Von einem Krieg in der Ukraine spricht er nach wie vor nicht, sondern von einer „gegenwärtigen politischen Situation“, die darauf abziele, „die bösen Kräfte, die immer gegen die Einheit der Rus und der russischen Kirche gekämpft haben“, nicht gewinnen zu lassen. Eine Grenze zwischen beiden Ländern, „die mit dem Blut der Brüder befleckt ist“, gilt es zu verhindern. Auch mit dieser Ansprache unterstützt er Putins Geschichtsbild und spricht der Ukraine den Status einer eigenständigen Nation ab. In seiner Predigt vom 6. März 2022 spitzt er die Rhetorik eines Kampfes zwischen guten und „bösen Mächten“ noch einmal zu. Er spricht von einem Kampf zwischen westlichen „liberalen Werten“ und östlichen „wahren christlichen Werten“ – zwischen „Sündern“ und „Aggressoren“ auf der einen und nach „Gerechtigkeit“ suchenden und auf der „Seite des Lichts“ stehenden auf der anderen Seite. All dies zeigt, – so Patriarch Kirill I. –, dass wir uns in einem Kampf befinden, der keine physische, sondern eine metaphysische Bedeutung hat. 

Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK-MP, Moskauer Patriachat) 

Während Patriarch Kirill I. Putins Angriffskrieg nicht erwähnt und den Auseinandersetzungen eine „physische“ Komponente abspricht, wird das Oberhaupt der UOK-MP sehr viel deutlicher und verurteilt die aggressiven Handlungen der Russischen Föderation. Dies ist bemerkenswert, da sich die UOK-MP bisher mit politischen Aussagen zurückhielt. Am 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, veröffentlichte der Metropolit der Grenzdiözese Sumy (Nordosten der Ukraine) ein Statement. In diesem werden der „militärische Angriff auf das souveräne Gebiet der Ukraine“ und der Beschuss ziviler Siedlungen verurteilt. Schon hier wird Russland deutlich als Aggressor genannt und dazu aufgerufen, die Militäraktionen zu beenden. 

Mit einem offenen Appell an Patriarch Kirill I. (28.02.22) wird die Synode der UOK-MP noch deutlicher in ihrer Ablehnung des russischen Angriffes auf einen souveränen Staat. Metropolit Onufrij von Kiew, der mit Beginn des Krieges Russland als Aggressor bezeichnet, bekräftigt, dass „die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche die staatliche Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine stets unterstützt hat und unterstützt“. Mit diesem Statement bezieht die UOK-MP erstmalig geopolitisch Stellung. Mit Referenz auf die „besondere geistliche Verantwortung“ als „Primus inter pares“ fordert die Synode Patriarch Kirill I. auf, auf Putin einzuwirken, um das „brudermörderische Blutvergießen auf ukrainischem Boden“ zu stoppen. 

Als direkte Antwort auf die Predigt des Patriarchen Kirill I. (27.02.2022) kritisierte die Grenzdiözese Sumy das bisherige Schweigen und die Verweigerung des Patriarchen, den Krieg als solchen zu benennen und zu verurteilen. Einen Angriffskrieg nur als „Zwist und Zwietracht“ zu bezeichnen, ließe vermuten, dass „der Patriarch die erzwungene Aufgabe der staatlichen Souveränität der Ukraine und ihre gewaltsame Eingliederung in Russland durchaus billigt“. Mit dieser Haltung werde der Patriarch seiner Verantwortung nicht gerecht. Als Konsequenz beschließt die Grenzdiözese, das Gedenken an den Patriarchen während der Gottesdienste einzustellen. „Diese Entscheidung wird auch von den Forderungen unserer Gläubigen diktiert, die den Namen des Patriarchen Kyrill in unseren Kirchen leider nicht mehr hören wollen.“ Seither wird in vielen Bistümern der UOK-MP Patriarch Kirill I. nicht mehr in der Liturgie kommemoriert. Dies kann als erstes Zeichen eines Bruches und des Loslösens von Moskau verstanden werden. Es ist in der Orthodoxie gleichbedeutend mit der Aufkündigung der Kirchengemeinschaft. Die Reaktion aus Moskau ist eindeutig. Am 2. März 2022 wird das Vorgehen der Grenzdiözese Sumy als „Schisma“ bezeichnet. So heißt es in einem Statement der ROK: „Die Beendigung des Gedenkens an den Primas der Kirche, nicht wegen doktrinärer oder kanonischer Irrtümer oder Missverständnisse, sondern weil es bestimmten politischen Ansichten und Vorlieben nicht entspricht, ist eine Spaltung, für die sich jeder, der sie begeht, vor Gott verantworten muss, nicht nur im kommenden, sondern auch im gegenwärtigen Zeitalter.“ 

Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU, Patriarchat von Konstantinopel)

Die Orthodoxe Kirche der Ukraine verurteilt die russische Invasion aufs schärfste. Bereits am 22. Februar 2022 rief Metropolit Epiphanius zum Schutz der Ukraine vor der russischen Aggression auf. Die Beziehungen beider Länder seien gekennzeichnet durch Invasionen und Kriege, in denen Russland stets der Aggressor war. „Für uns, das ukrainische Volk, kann es daher nur eine Antwort auf die Aggression des Kremls geben: einen erbitterten Widerstand, den Schutz der Heimat, der Freiheit und der Integrität und den Kampf gegen den Aggressor bis zum Sieg.“ Nur eine souveräne Ukraine könne Rechte und Freiheiten garantieren. Zudem wandte er sich direkt an die UOK-MP, nicht auf Moskau zu warten, sondern die Verteidigung der Ukraine selbst in die Hand zu nehmen: „Dies ist eine staatsbürgerliche und christliche Pflicht für jeden einzelnen von Ihnen.“

Wie bereits die Synode der UOK-MP, richtet sich auch Metropolit Epiphanius (27.02.2022) mit einem Appell an den Pariarchen Kirill I. – allerdings nicht mit der Bitte, Putin ins Gewissen zu reden: „Leider geht aus Ihren bisherigen öffentlichen Äußerungen bereits hervor, dass Ihnen die Aufrechterhaltung der Gunst Putins und der russischen Führung viel wichtiger ist als die Sorge um die Menschen in der Ukraine, von denen einige Sie vor dem Krieg als ihren Hirten betrachteten. Daher macht es kaum Sinn, Sie aufzufordern, etwas Wirksames zu tun, um Russlands Aggression gegen die Ukraine sofort zu stoppen.“ Kirill I. solle „Menschlichkeit und Sorge“ gegenüber den eigenen Landsleuten zeigen. Metropolit Epiphanius wird sehr deutlich in seiner Anklage: „Wenn Sie Ihre Stimme nicht gegen die Aggression erheben können, dann helfen Sie wenigstens mit, die Leichen der russischen Soldaten zu beseitigen, die mit ihrem Leben für die Ideen der „russischen Welt“ bezahlt haben – Ihre und die Ihres Präsidenten.“ Seither richtet die OKU Appelle an die Bevölkerung durchzuhalten und fordert die internationale Gemeinschaft auf zu handeln. 

Interreligiöser Dialog – eine Friedensperspektive?

Angesichts des Aufmarsches russischer Truppen an den Grenzen der Ukraine rief der ukrainische Präsident am 16. Februar 2022 den „Tag der nationalen Einheit“ aus. Zu diesem Anlass fand in der Sophienkathedrale in Kiew, einem wichtigen Symbol ukrainischer Eigenständigkeit, ein interreligiöses Gebetstreffen statt. Vertreter der konkurrierenden orthodoxen Kirchen, der UOK-MP und der OKU, sowie Vertreter katholischer und evangelischer Kirchen positionierten sich geschlossen gegen die russische Aggression und riefen zur Verteidigung der Ukraine auf.

Interreligiöse Zusammenkünfte sowie die eindeutige politische Positionierung der UOK-MP lassen Schritte hin zu einer Annäherung zwischen den beiden ukrainisch-orthodoxen Kirchen erwarten. Zudem zeichnet sie eine vorsichtige Loslösung der UOK-MP vom Moskauer Patriarchat ab. Von Seiten der OKU werden wieder Aufrufe stärker, die Kirchen der Ukraine zu vereinen. Bisher scheiterte dies hauptsächlich an der Frage, ob eine ukrainische Kirche eigenständig sein oder dem Moskauer Patriarchat unterstehen soll. Der Krieg wird die religiöse Landschaft noch einmal entscheidend verändern.

Alle bisherigen Appelle an Patriarch Kirill I., auf Putin einzuwirken, sind gescheitert. Die enge Zusammenarbeit von Kirchenleitung und politischen Eliten – die Nähe der Orthodoxie zum Staat – wirkt sich in diesem Krieg als Brandbeschleuniger aus. Aufgrund der Verbindung von Staatsnähe und Patriotismus können die orthodoxen Kirchen der Ukraine und Russlands kaum zur Deeskalation beitragen. Eine Verurteilung des Angriffskrieges ist von Kirill I. daher nicht zu erwarten und die von den Klitschko-Brüdern adressierte Friedensverantwortung der Religionen wird an dieser Stelle nicht gehört werden. Aber was kann getan werden? Trotz der Situation sollte der Druck auf Kirill I. nicht nachlassen. Zusammen mit der orthodoxen Weltgemeinschaft und der Ökumene sollte der Dialog gestärkt und Lösungen gefunden werden. 

*Dieser Text erscheint in: Werkner, Ines-Jacqueline et al. (Hrsg.): Krieg in der Ukraine. Hintergründe – Positionen – Reaktionen, Heidelberg: heiBOOKS, 2022 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 4).