Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt

Folge 17: China

Madlen Krüger

© Chistian Lue/Unsplash

Bisher enthält sich China bei Abstimmungen über UN-Resolutionen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine. Das chinesische Außenministerium und die Staatspresse vermeiden nach wie vor den Begriff „Krieg“ und bezeichnen den Krieg in der Ukraine seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 als „Ukraine-Krise“.

Während Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping Gespräche mit Wladimir Putin pflegt, findet erst ein Jahr nach Kriegsausbruch ein erstes Telefonat zwischen Xi Jinping und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj statt. Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine entwirft sich Peking verstärkt als unparteiisches Gegengewicht zum Westen: China als Großmacht, das die neuen Spielregeln für Sicherheit in der Welt festlegt. Was Xi Jinping schon Jahre zuvor im Rahmen seiner Seidenstraßeninitiative angelegt hat, konkretisiert sich nun im Entwurf neuer globaler sicherheitspolitischer Standards. China kündigt Friedensinitiativen für die Ukraine an und präsentiert sich als Vermittler und Konfliktlöser. Bislang hat Peking allerdings nicht erkennen lassen, dass es sich aus seiner Nähe zu Russland lösen und ernsthaft und unparteiisch verhandeln will. Xi Jinping und seine Diplomaten üben keinerlei Kritik an dem Angriffskrieg Wladimir Putins. Stattdessen folgen sie dem russischen Narrativ, wonach die USA und die NATO schuld an der Eskalation des Konflikts seien.

Seidenstraßeninitiative – alle Wege führen nach China

Ein zentraler Bestandteil chinesischer Außenpolitik ist das 2013 eingeleitete „Jahrhundertprojekt“  Xi Jinpings: die Neue Seidenstraße. Mit dem Mammutprojekt will China neue Handelskorridore zwischen Asien, Afrika und Europa aufbauen. Das schließt zahlreiche Infrastrukturprojekte mit ein. Mehr als 70 Länder umfasst das Vorhaben. Eine Billion US-Dollar will China investieren, indem es über seine Staatsbanken in den jeweiligen Ländern Kredite für den Bau von Straßen, Brücken, Bahnstrecken, Pipelines, Kraftwerken, Häfen und Energienetzen vergibt. Viele anliegende Staaten sehen genau das als Chance, ihre marode Infrastruktur zu verbessern und den Lebensstandard zu erhöhen. 

Aber was verspricht Peking sich von der Seidenstraßeninitiative? Zweierlei: (1) Es will sich als Handels- und Wirtschaftsmacht positionieren, mit neuen Absatzmärkten die eigene Wirtschaft ankurbeln und sich Zugang zu Ressourcen und Rohstoffen verschaffen. (2) Es verfolgt geopolitische und strategische Interessen, die das Regelwerk des globalen Handels verändern, um den eigenen internationalen Einfluss zu festigen und auszubauen. Als Kern der chinesischen Außenpolitik ist das Neue Seidenstraßenprojekt Ausdruck des globalen Machtanspruchs und zentraler Teil von Chinas neuer Weltordnung. Mit Beginn des Projektes gelingt es China, durch wirtschaftliche Erfolge auch geopolitisch zur Großmacht aufzusteigen und sich als Gegengewicht zum Westen zu positionieren. Damit wächst in Europa die Sorge um Einflussnahme und Abhängigkeiten, und so warnen einige Länder bereits vor einem neuen Kolonialismus: Infrastruktur gegen Rohstoffe.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine gehen allerdings auch nicht spurlos an China vorbei. Wirtschaftliche Stabilität ist eine der Grundlagen für den Erfolg der Neuen Seidenstraßeninitiative. Für viele hoch verschuldete Länder sind chinesische Kredite seit den Preissteigerungen auf dem Weltmarkt jedoch nicht mehr tragbar. So gerät die Seidenstraßeninitiative ins Stocken. Allein aus diesem Grund sollte China an einem baldigen Ende des Ukrainekrieges gelegen sein.

Globale Sicherheitsinitiative – eine neue Weltordnung?

Das Schlüsselthema der Xi-Ära ist die nationale Sicherheit. Es durchdringt alle Politikfelder und prägt die Außenpolitik Chinas. Angetrieben von der Sorge, dass interne und externe Kräfte die Machtposition der chinesischen Führung untergraben könnten, und zugleich überzeugt von der Stabilität und Überlegenheit des eigenen politischen Systems kündigte Xi Jinping im April 2022 eine „Globale Sicherheitsinitiative“ (GSI) an . Im Februar 2023 präsentierte Außenminister Qin Gang in Peking das Konzeptpapier, das praktische Lösungen globaler Sicherheitsdilemmata bieten soll. Die GSI soll – so die chinesische Argumentation – ein neuer Ansatz sein, mit dem internationale Konflikte und Sicherheitsherausforderungen lösbar werden und der bereits von mehr als 80 Ländern bzw. regionalen Organisationen unterstützt werde. Die GSI ist Teil mehrerer Initiativen, zu denen auch die Globale Entwicklungsinitiative (2022) und die Globale Zivilisationsinitiative (2023) gehören. Im Kern bekennt sich China zu den Grundprinzipien der Vereinten Nationen. Dabei stehen die Souveränität und Sicherheitsinteressen der individuellen Staaten im Mittelpunkt. Differenzen sollen durch Dialog ausgeräumt werden, nicht durch Sanktionen und Interventionen in Krisengebieten. Als Dialogpartner und Vermittler will Peking dabei eine tragende und konkrete Rolle spielen: Zum Jahrestag des Angriffs auf die Ukraine hat China im Februar 2023 einen Zwölf-Punkte-Plan „zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise“ veröffentlicht, im Folgemonat vermittelte Peking zwischen Saudi-Arabien und dem Iran zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und kündigte im April 2023 an, zwischen Israel und Palästina vermitteln zu wollen. 

Die GSI fällt in eine Zeit, in der Xi Jinping mit immer größerem Nachdruck Chinas Macht und Einfluss auf der Weltbühne einfordert. Dabei präsentiert sich China als verantwortungsvolle Großmacht, die beim Aufbau internationaler Sicherheitsstrukturen ethische Standards und die Interessen der internationalen Gemeinschaft achtet – im Gegensatz zum Westen, der mit seiner wertebasierten Diplomatie nur die Gelegenheit nutze, sich innenpolitisch einzumischen. Pekings Beziehungen zu vielen Ländern seien im Vergleich zu denen der USA und anderer westlicher Länder nicht vorbelastet. Es sei ein glaubwürdigerer Vermittler: unparteiisch und objektiv stehe es für eine Außenpolitik der Nichteinmischung und für ausgewogene Beziehungen. 

Im Globalen Süden findet die GSI durchaus Gehör. China wird tatsächlich als unbelasteter Akteur wahrgenommen, der selten Position bezieht und wirtschaftliche Entwicklungen ohne die harten Bedingungen westlicher Staaten in Aussicht stellt. Chinas Schwerpunkte – Vermittlung, Entwicklung und Nichteinmischung – sind in diesen Regionen attraktiv. Die Bedenken seitens des Westens fokussieren sich vornehmlich auf die nebulösen Formulierungen der Sicherheitsinitiative, die den Schutz der eigenen Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen ins Zentrum stellen. Denn dabei stellt die Kommunistische Partei die eigene Staatsverfassung über das Völkerrecht und propagiert eine eigene Leseart der Menschenrechte. 

Mit zwölf Punkten zum Frieden? 

Als einen „Schritt in die richtige Richtung“ bezeichnete Wolodymyr Selenskyj die Ankündigung des leitenden chinesischen Außenpolitikers Wang Yi auf der Münchner Sicherheitskonferenz (17.-19. Februar 2023), ein Positionspapier „zur politischen Lösung der Ukraine-Krise“ vorzulegen. Mit der Ankündigung verbanden sich sowohl Hoffnung als auch Skepsis: Hoffnung, dass China – wie schon lange vom Westen gefordert – seinen Einfluss auf Russland geltend mache und Putin zu einem Abzug seiner Truppen aus der Ukraine bewegen könne. Skepsis, da China den russischen Angriffskrieg bis heute nicht verurteilt hat. Das von der internationalen Gemeinschaft mit Spannung erwartete Papier präsentierte Peking medienwirksam kurze Zeit später zum ersten Jahrestag des Angriffs Russlands auf die Ukraine. Die Reaktionen des Westens auf den Zwölf-Punkte-Plan bringt eine Aussage Wolodymyr Selenskyjs auf den Punkt: „Mir scheint, dass das kein Friedensplan Chinas war“.

Der Friedensplan enthält zwölf Punkte:

  1. Respektierung der Souveränität aller Länder,
  2. Abkehr von der Mentalität des Kalten Krieges,
  3. Einstellung der Feindseligkeiten,
  4. Wiederaufnahme der Friedensgespräche,
  5. Lösung der humanitären Krise,
  6. Schutz von Zivilisten und Kriegsgefangenen,
  7. Kernkraftwerke sicher halten,
  8. Verringerung strategischer Risiken (u.a. kein Einsatz nuklearer Waffen),
  9. Erleichterung der Getreideexporte,
  10. Ende unilateraler Sanktionen,
  11. Stabilisierung der Industrie- und Versorgungsketten sowie
  12. Förderung des Wiederaufbaus.

Diese Punkte werden befürwortet sowie kritisiert. Ein Hauptkritikpunkt ist, dass alle zwölf Punkte sehr allgemein gehalten sind. Der erste Punkt betont die Aufrechterhaltung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität aller Staaten, was Beobachter als Kritik Pekings an der durch Moskaus Invasion verletzten Souveränität der Ukraine werten. Gleichzeitig wird darin aber auch gefordert, dass die „legitimen Sicherheitsinteressen aller Länder ernst genommen“ werden müssten. Hinter dieser Formulierung sehen Diplomaten einen klaren Verweis auf das Narrativ Russlands, sich gegen die USA und die NATO verteidigen zu müssen. So heißt es weiter, dass selbstverständlich eine „ausgewogene, effektive und nachhaltige Sicherheit“ geschaffen werden müsse, die „Feindseligkeiten“ zu beenden seien, sich alle Parteien „rational“ und mit „Zurückhaltung“ zeigen sollten und es keinen Einsatz von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen geben dürfe. Im Konzeptpapier finden sich bekannte Positionen Chinas wieder, die den strategischen Partner Russland unterstützen und gleichzeitig Kritik am Vorgehen des Westens äußern: etwa die Forderung, die „einseitigen Sanktionen“ und die „Kalte-Kriegs-Mentalität“ zu beenden sowie „Militärblöcke“ nicht auszuweiten. Jegliche Kritik an Russland bleibt ausgeklammert. Peking fordert die internationale Gemeinschaft auf, dabei zu helfen, die nötigen Voraussetzungen für Friedensgespräche zu schaffen. Das Dokument ruft zur Unterstützung des „direkten Dialogs“ zwischen der Ukraine und Russland auf mit dem Ziel einer schrittweisen Deeskalation und eines anschließenden umfassenden Waffenstillstandes. Zudem erklärt sich Peking bereit, beim Wiederaufbau zu helfen und eine „konstruktive Rolle“ zu spielen. Konkreter wird der chinesische Friedensplan nicht. Sich selbst positioniert Peking als neutralen Vermittler. Allerdings steht die von Xi Jinping betonte objektive und unparteiische Position Chinas durchaus infrage. So gilt China keinesfalls als neutrale Instanz, hegt es doch mit Russland eine strategische Partnerschaft und verurteilte bis heute nicht den russischen Einmarsch in die Ukraine.

Der Zwölf Punkte-Plan ist zuallererst ein Papier, mit dem Xi Jinping Chinas eigene Sicherheitspolitik für die globale Welt zu untermauern sucht. Es werden lediglich chinesische Positionen erläutert, aber ohne konkrete Vorschläge für die Konfliktbeilegung. Kritikerinnen und Kritikern zufolge finden sich im Dokument keine ernsthaften Konzepte zur Schaffung eines Friedens. So wird der „Friedensplan“ vor allem im Westen als substanzlos und wenig hilfreich verworfen. Der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, bezeichnete den Plan als „wenig glaubwürdig“. Russland hingegen begrüßt das Positionspapier, setzt allerdings ein Ende westlicher Waffenlieferungen voraus.

Ausgeträumt?

Nach dem Telefonat zwischen Xi Jinping und Wolodymyr Selenskyj schickte die chinesische Führung im Mai 2023 einen Sondergesandten nach Kiew. Inwieweit dies eine neue Phase chinesischen Engagements einleiten könnte ist nicht ausgemacht. Zwar haben auch im Westen immer wieder Politikerinnen und Politiker Peking als Vermittler ins Spiel gebracht – zuletzt etwa Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron –, Chinas konkreter Beitrag zur Konfliktbeilegung bleibt indes unklar. Dabei kann Peking durchaus Erfolge als Vermittler in der Beilegung von Konflikten vorweisen, beispielsweise im  Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Aber wie steht es um die Motivation und Handlungsfähigkeit im Ukrainekrieg? Chinas Sicherheitsinitiative und der Zwölf-Punkte-Plan sind ein klarer Versuch, Xi Jinpings staatszentriertes Sicherheitskonzept in der Welt durchzusetzen. Um für die chinesische Sicht auf die Welt auch abseits des Globalen Südens zu werben, sollte China jedoch konkretere Vorschläge für einen Weg aus dem Krieg in der Ukraine unterbreiten.