Lotta Mayer

Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine wird in der Öffentlichkeit oft als eine Art Fortsetzung des Kalten Krieges behandelt. Das allerdings reduziert zum einen die Ukraine auf eine gänzlich passive Rolle – eines „Stellvertreters“ oder gar einer „Marionette“ des Westens etwa. Zum anderen verkennt es die vielschichtige Gemengelage aus verschiedenen Konflikten und zahllosen Akteuren in ganz unterschiedlichen Rollen, aus der heraus der derzeitige Krieg entstanden ist. Ohne ein grundlegendes Verständnis dieser Strukturen aber kann nicht erklärt werden, wie es zu Russlands Krieg gegen die Ukraine kommen konnte; und ebenso wenig kann eine Lösung für den Konflikt oder wenigstens ein Ausweg aus dem Krieg gefunden werden.

Entsprechend möchte dieser Beitrag aufzeigen, in welches komplexe Geflecht aus Konflikten auf mehreren Ebenen der aktuelle Krieg in der Ukraine eingebettet ist.

1.  Russland“ gegen „die“ Ukraine?

Bereits wenn man nur fragt, wer hier eigentlich um was gegen wen kämpft, stellt man rasch fest, dass die Antwort nicht nur „Russland gegen die Ukraine“ lautet. Militärisch stehen sich nicht nur deren Armeen gegenüber, sondern auch die ukrainische Armee und bewaffnete pro-russische Separatisten aus dem Donbas. Bei aller Russland-Affinität der Donbas-Milizen und aller Unterstützung derselben durch Russland sind sie ein Akteur mit eigener Agenda: Sie greifen selbst nach der „Regierungs-“Macht in den 2014 ausgerufenen selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, und die russische Kontrolle über dieses Gebiet ist Teil und Mittel der Umsetzung dieses Herrschaftsanspruchs. Somit verbindet sich hier ein zwischenstaatlicher Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, der bereits seit 2003 besteht, mit einem innerstaatlichen Konflikt ab 2014. Russland agiert dabei zugleich als Konfliktpartei im einen Fall und als Unterstützer der nichtstaatlichen Konfliktpartei, d.h. der Donbas-Separatisten, im anderen Fall.

Diese Konflikte drehen sich nur teilweise um dieselben Streitgegenstände: In der Auseinandersetzung zwischen Donbas-Separatisten und ukrainischer Regierung geht es darum, Teile des Donbas der Souveränität der Ukraine zu entziehen. Zwischen Russland und der Ukraine spielt die Donbas-Frage zwar eine wichtige Rolle, letztlich aber geht es um mehr, nämlich um das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine. Dies gilt erstens hinsichtlich ihrer geopolitischen Ausrichtung und Bündnisfreiheit, also der Frage nach einem NATO-Beitritt. Zweitens gilt es hinsichtlich der Besetzung politischer Spitzenpositionen durch Vertreterinnen und Vertreter des pro-russischen bzw. pro-westlichen Lagers. Und damit gilt es drittens auch hinsichtlich ihrer inneren politischen Verfasstheit: Wie frei und fair dürfen Wahlen sein, wenn sie – aus Putins Sicht – zum falschen Ergebnis führen? Aus russischer bzw. Putin’scher Sicht dürfte das eigentliche Ziel darin bestehen, dauerhaft ein verlässlich loyales Regime in Kiew zu installieren. Die territoriale Dimension – ein eventueller Anschluss des Donbas an Russland, die Annexion der Krim und der aktuelle Versuch, Teile der Südukraine als Landbrücke zur Krim, falls nicht nach Transnistrien, zu annektieren – stellt eher eine Rückfalloption im Fall eines Scheiterns hinsichtlich des eigentlichen Ziels dar.

Folglich kann der Konflikt ohne einen Blick auf die innere Verfasstheit und inneren Konflikte der beiden Staaten nicht verstanden werden. Die Frage nach der West- oder Ost-Orientierung der Ukraine ist – oder war – auch innerhalb des Landes umstritten, wobei die Lager grob entlang geografischer Linien, d.h. West- versus Ostukraine, verliefen. Diese innergesellschaftliche Auseinandersetzung ist eng verbunden mit der Konkurrenz verschiedener Eliten-Fraktionen um die politische Herrschaft und damit verbundene ökonomische Vorteile sowie die Gestaltung des politischen Systems. Letzteres verweist insbesondere auf die Frage, ob die Ukraine sich hin zu mehr oder weniger Demokratie entwickeln soll. Russland wiederum ist innenpolitisch geprägt von der Auseinandersetzung um den Umbau des politischen Systems hin zu einem autoritären – und mittlerweile sogar diktatorischen – Regime unter Putin. Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre lässt sich erkennen, dass Russland die unter Michail Gorbatschow begonnene Demokratisierung wieder zurückzudrehen versucht. Zumindest für das Handeln der russischen Regierung sind die innenpolitischen Verhältnisse in beiden Ländern relevant: Während es bei aller Plausibilität Spekulation bleiben muss, ob Putin und seine Entourage bereits eine weitere Konsolidierung der bislang eher imperfekten Demokratie in der Ukraine als Bedrohung wahrnehmen, so lässt sich aus der russischen Politik gegenüber dem Nachbarland klar der Versuch ablesen, eine eventuelle Neuausrichtung zum Westen zu unterbinden.

2. Nicht einfach „Kalter Krieg 2.0“

Bereits aufgrund der gerade skizzierten Konfliktlinien wäre es falsch, den Krieg in der Ukraine einfach als Teil des Konflikts zwischen Russland und der NATO zu interpretieren. Doch auch auf der internationalen Ebene spricht einiges gegen eine zu simple Betonung dieser Kontinuität. Richtig ist, dass der Ost-West-Konflikt sich mit dem Zerfall der Sowjetunion 1989/90 eher transformierte als ein Ende fand: Der Warschauer Pakt löste sich auf, die NATO nicht; die Sowjetunion zerfiel, aber Russland blieb als Erbe ihrer Atomwaffen und des Anspruchs, Weltmacht und Regional-Hegemon zu sein. Ideologisch zeigt sich dies im Konzept der „russischen Welt“, das Putin Mitte der 2000er Jahre adaptierte. Vereinfacht gesagt bezeichnet dieses Konzept die Vorstellung eines russischen Kulturraums über die Grenzen des heutigen Russlands hinaus, der die Grundlage einer staatenübergrerifenden sozialen Gemeinschaft bildet. Entsprechend war die Osterweiterung von NATO und EU stets eine Frage, die auch die Beziehung zwischen den beitrittswilligen Staaten und Russland sowie das Verhältnis zwischen NATO und Russland betraf. Zudem blieb als Erbe (oder Wiedergänger?) des Kalten Krieges eine Auseinandersetzung über die Einhaltung der damals geschlossenen Rüstungskontrollvereinbarungen.

Falsch aber ist die Interpretation als „Kalter Krieg 2.0“ insofern, als sie entscheidende Transformationen übergeht: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete die ökonomische Systemkonkurrenz, was eine nie gekannte globale ökonomische Integration unter kapitalistischen Vorzeichen und quer zu den vorherigen Blockgrenzen ermöglichte. Diese wiederum stellte den ökonomischen Aufstiegspfad für China, aber auch für weitere Länder wie insbesondere Indien, Brasilien und Südafrika dar. Auch daher wandelte sich die politische Weltordnung von der bipolaren Ordnung des Kalten Krieges über eine vorübergehende Phase der US-Hegemonie hin zur gegenwärtigen multipolaren Ordnung, in der mindestens drei Welt- und einige Regionalmächte – neben den oben genannten insbesondere noch Iran und Saudi-Arabien – um Einflusssphären konkurrieren und in der sich die relativen Gewichte noch längst nicht austariert haben.

Die Beziehungen in dieser multipolaren Ordnung sind weder simpel noch fix: Die Konflikt- und Kooperationslinien laufen kreuz und quer, und selbst die derzeit immer wieder beschworene Lagerbildung in Demokratien gegen Autokratien (Robert Kagan) ist lediglich eine realistische Möglichkeit am Horizont, aber noch nicht Realtät. Zugleich aber spiegelt die Struktur des UN-Sicherheitsrats mit dem Veto-Recht der Ständigen Mitglieder noch die alte bipolare Weltordnung wider, entfaltet aber unter den neuen Bedingungen ganz andere Wirkungen. Kurz: Die gegenwärtige Auseinandersetzung zwischen Russland und – vereinfacht gesprochen – dem Westen findet in einem Setting statt, das viel komplexer und dynamischer ist als das des Kalten Krieges. Entsprechend ist die Einschätzung von Handlungsmöglichkeiten und -folgen mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Dies gilt für Russland genauso wie für den Westen.

3. Konflikte in Osteuropa mit russischer Beteiligung

Wenn Großmächte um Einflusssphären konkurrieren, bedeutet dies faktisch eine Auseinandersetzung um Formen der politischen, ökonomischen und territorialen Kontrolle über dritte Staaten. Letzte sind Akteure mit eigenen Interessen und Weltsichten – interne Konflikte eingeschlossen. Dies gilt, egal ob sie ökonomisch, politisch oder militärisch Anschluss an eine der Großmächte suchen und an welche oder ob sie vielmehr versuchen, eine Art von Unabhängigkeit oder Neutralität zu wahren oder auch erst zu erlangen. Zugleich aber sind sie Objekt der Begierde von Großmächten; das impliziert, dass ihnen partiell das Selbstbestimmungsrecht abgesprochen wird. Sie sind damit Konfliktgegenstand und Konfliktpartei zugleich. Diese Konstellation ist historisch keineswegs neu (gerade dann, wenn Großmächte sich im Niedergang befinden). Zum Sortiment der seitens der Großmacht verwendeten Politikformen gehören insbesondere die Unterstützung „freundlicher“ Staaten in der Auseinandersetzung mit „abtrünnigen“ Staaten; die Stabilisierung „freundlicher“ Regierungen etwa gegen oppositionelle Bestrebungen; verschiedene Formen des versuchten Regime Change; oder die Förderung von Autonomie- oder Sezessionsbestrebungen in Regionen, die als Siedlungsgebiet „zugehöriger“ ethnischer Minderheiten gelten.

Folglich überrascht es nicht, dass der Blick nach Osteuropa eine ganze Reihe an Konflikten seit 1989  entlang dieser Linie zeigt – selbst wenn man nur diejenigen nennt, die strukturell ähnlich gelagert sind wie der Ukraine-Konflikt und aktuell andauern. Dem Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) zufolge – auf dessen Conflict Barometer der Jahrgänge 2003 bis 2020 die folgende Darstellung beruht – bestehen in Estland und Lettland seit 1991 Konflikte um die Autonomie der jeweiligen russischsprachigen Minderheiten. Diese sind eng verbunden mit den jeweils seit 1994 bestehenden zwischenstaatlichen Konflikten mit Russland, in denen es unter anderem um den rechtlichen Status der Minderheiten und der russischen Sprache sowie um Geschichts- und Bündnispolitik geht. Eine ähnliche Konstellation besteht in Georgien: Dort erklärten die an Russland grenzenden Gebiete Abchasien und Südossetien 1990 bzw. 1992 ihre Unabhängigkeit von Georgien, tendenziell mit dem Ziel, sich dem russischen Staatsgebiet anzuschließen. Da Russland – das auf der Basis des Moskauer Abkommens von 1994 Truppen in den Regionen stationiert hat – diese Bestrebungen unterstützt, besteht auch hier ein Konflikt zwischen den beiden Staaten.

Leicht abgewandelt besteht diese Konstellation auch in Transnistrien, dessen „Regierung“ sich 1990 als unabhängig von der Republik Moldau erklärte. Infolge des russischen Eingreifens in den resultierenden Krieg sind bis heute entsprechend des Waffenstillstandvertrages russische „Friedenstrupppen“ in Transnistrien stationiert. Noch besteht kein offener Konflikt zwischen Moldau und Russland – Russland erkennt Transnistrien bislang nicht als unabhängigen Staat an, und die Regierung Moldaus balancierte zumindest bis 2020 sorgsam zwischen West- und Ostorientierung (vgl. Eugene Rumer). Der ähnlich gelagerte Konflikt in und mit der Ukraine, d.h. die Sezessionsbestrebungen der Krim sowie der selbsternannten Volksrepubliken im Donbas seit 2014 und die zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen auch über die russische Unterstützung der Separatisten, ist also „nur“ das jüngste Beispiel in einer ganzen Reihe.

4. Fazit

Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine ist damit nicht einfach nur eine Art der Fortsetzung des Kalten Krieges, ein Produkt der Konfrontation zwischen Russland und der NATO. Vielmehr ist er Teil einer vielschichtigen und verwobenen Konfliktstruktur, in der Konflikte in und zwischen verschiedenen Ländern zusammenspielen. Dies sind erstens Konflikte innerhalb von Staaten, nämlich a) die Konflikte innerhalb der Ukraine und innerhalb weiterer osteuropäischer Staaten um die Frage, ob diese sich politisch, ökonomisch und militärisch eher nach Osten oder nach Westen orientieren sollen, b) die Autonomie- und Sezessionskonflikte mit Russland-Bezug in ebendiesen Staaten, und c) der Konflikt um Demokratie oder Autokratie innerhalb Russlands. In enger Wechselwirkung damit stehen zweitens die Konflikte zwischen Russland und diesen Staaten um deren Selbstbestimmung. Und sie alle sind eingebettet in die geopolitische Auseinandersetzung zwischen – vereinfacht gesagt – den USA und der NATO einerseits und Russland andererseits. Diese geopolitische Auseinandersetzung prägt die genannten inner- und zwischenstaatlichen Konflikte mit, aber diese sind nicht auf sie reduzibel: Zugespitzt formuliert würde sich die Frage, inwieweit Russland den osteuropäischen Staaten das Recht zugesteht, über ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu entscheiden, wahrscheinlich auch dann stellen, wenn es keine EU und keine NATO gäbe. Nur hätten diese dann gar keine Wahl.

*Dieser Text erscheint in: Werkner, Ines-Jacqueline et al. (Hrsg.): Krieg in der Ukraine. Hintergründe – Positionen – Reaktionen, Heidelberg: heiBOOKS, 2022 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 4).