Regina Elsner

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat eine religiöse Dimension, deren Verständnis für eine Einschätzung möglicher Annäherungen der Gesellschaften wichtig ist. Diese Dimension sollte für Russland und für die Ukraine differenziert wahrgenommen werden, gleichzeitig gibt es aber auch zahlreiche Verbindungen.

1        Die Rolle der Kirchen aus der ukrainischen Perspektive

Die Ukraine ist geprägt durch eine religiöse Vielfalt, die für den post-sowjetischen Kontext einmalig ist. Die Orthodoxe Kirche spielt historisch dennoch eine wichtige Rolle. Sie stellt einen wichtigen Faktor der dezidiert ukrainischen Identität dar, da die Christianisierung der gesamten Region von der Taufe der Kiewer Rus‘ ausging und dieses Selbstbewusstsein einer „Kiewer Tradition“ immer wieder auch gesellschaftliche Prozesse geprägt hat. Gleichzeitig verbindet diese Kiewer Orthodoxie mehrere Gesellschaften über Staatsgrenzen hinweg und setzt damit den grundlegend transnationalen Charakter des Orthodoxen Christentums fort. Politische Prozesse haben das Verwaltungs- und Machtzentrum nach Moskau verschoben, was spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts für Kritik an dem russischen Anspruch über die ukrainische Orthodoxie sorgt. In den Prozessen des wachsenden nationalen Selbstbewusstseins in der Ukraine spielt die Orthodoxie seitdem eine wichtige Rolle.

Der Konflikt zwischen russischem Führungsanspruch und ukrainischer Eigenständigkeit schwelt in der ukrainischen Orthodoxie seit dem Ende der Sowjetunion. Seit 1991 genießt die Ukrainische Orthodoxe Kirche eine „weitreichende Autonomie“ innerhalb des Moskauer Patriarchats – ein Status, der innerhalb der Kirche einmalig ist und tatsächlich für sehr eigenständige Entwicklungen innerhalb der Ukraine gesorgt hat (etwa im Vergleich zu Belarus). Die Entstehung des Kiewer Patriarchats 1992 führte jedoch dazu, dass die Bindung an Moskau zum Inbegriff der Unterscheidung der beiden konkurrierenden Kirchen wurde. Verschiedene politische Führungen haben diesen Aspekt immer wieder politisch instrumentalisiert, um jeweils eine größere Nähe zu Moskau oder zu Europa kirchlich zu legitimieren. 

Mit dem Kriegsbeginn 2014 wurde diese Konkurrenz der Kirchen Teil der Kriegsführung. Der Ukrainischen Orthodoxen Kirche wurde und wird vorgeworfen, Einflusstor russischer Propaganda zu sein, dem Kiewer Patriarchat wurde und wird vorgeworfen, den ukrainischen Nationalismus zu unterstützen. Innerkirchlich war außerdem bedeutsam, dass das Kiewer Patriarchat nicht kanonisch war, d.h. kirchenrechtlich und dogmatisch keine gültigen Sakramente spendete, international isoliert war und damit für Gläubige immer fragwürdig bzw. ein rein politisches Projekt blieb. Die Anerkennung dieser Kirche als unabhängige (autokephale) Orthodoxe Kirche der Ukraine 2018 war darum einerseits eine Befreiung, andererseits blieben das Label des „politischen Projekts“ und auch die geopolitische Konkurrenz der Kirchen bestehen. 

Dies hat sich mit der Kriegseskalation im Februar 2022 nicht verändert. Zwar hat sich die Ukrainische Orthodoxe Kirche im Mai 2022 „vollständig von Moskau unabhängig“ erklärt, allerdings halten das Misstrauen und die gegenseitigen Verleumdungen an. Die Kirchenleitung in Kiew will ihre Gläubigen weder Moskaus Kriegspropaganda aussetzen noch in eine kanonische Unsicherheit führen, darum bleiben die kirchenrechtlichen Konsequenzen des Konzils vom Mai 2022 unklar. Die Vorwürfe, weiter mit Moskau zu kooperieren, werden vom opportunistischen und kollaboristischen Verhalten von Bischöfen in den besetzten Gebieten angeheizt. Die ukrainischen orthodoxen Kirchen sind fraglos Teil des Problems innerhalb der Ukraine.

Auch die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche soll hier als bedeutende Akteurin genannt werden. Diese Kirche ist im 16. Jahrhundert entstanden, als sich orthodoxe Bischöfe dem Papst von Rom unterstellten. Seit dem Erstarken der ukrainischen National-Bewegung im 20. Jahrhundert hat diese Kirche ihre besondere Rolle als Brücke zwischen orthodoxem Osten und katholischem Westen ausgeprägt. Sie wurde in der Sowjetunion gnadenlos verfolgt und in die Russische Orthodoxe Kirche zwangseingegliedert. Ihre Rückkehr aus dem Untergrund nach dem Ende der Sowjetunion sowie die eindeutige pro-ukrainische Haltung hat ihr in der Bevölkerung große moralische Autorität verschafft. Hinzu kommt eine durch die Verbundenheit mit Rom entstandene theologische Sozialethik, die ihre Positionierungen in der ukrainischen Gesellschaft von politischen Strategien unabhängiger macht.

Obwohl die Griechisch-Katholische Kirche also als neutrale Kraft in den geopolitischen Auseinandersetzungen angesehen werden kann, dürfen die historischen Verletzungen nicht unterschätzt werden. Zum einen bleibt für die Orthodoxie im Land die Abspaltung in die aus ihrer Sicht häretische katholische Kirche ein Trauma. Die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche andererseits hat die orthodox legitimierten Verfolgungsprozesse in der Sowjetunion nicht vergessen. Beide orthodoxe Kirchen haben große Ressentiments gegen die Ökumene und tun sich schwer mit einem Dialog auf Augenhöhe. Bevor die Kirchen also gemeinsam versöhnend in die Gesellschaft wirken können, müssen sie ihre inneren Konflikte aufarbeiten. Dies ist unter Kriegsbedingungen jedoch schwer umsetzbar.

Ein letzter Aspekt sei aus ukrainischer Perspektive genannt: Russland und Russlands Kirche führen diesen Krieg auch mit einer ideologischen Komponente, die innerhalb der ukrainischen Kirchen keineswegs einhellig abgelehnt werden würde, wenn denn die Waffen schweigen würden. Der Widerstand gegen die Werte des „dekadenten Westens“ war und ist auch innerhalb der ukrainischen Kirchen – etwa auch der protestantischen – groß. Damit haben sich die Kirchen in den vergangenen Jahren auch von einem großen Teil ihrer Gesellschaft entfernt, was ihren Einfluss auf versöhnende Prozesse innerhalb der Ukraine zumindest einschränkt.

2        Die Rolle der Kirchen aus der russischen Perspektive

Die Russische Orthodoxe Kirche hat Russlands Politik gegenüber der Ukraine seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin bedingungslos unterstützt. Eine wichtige Rolle spielt dabei das transnationale Selbstverständnis der Kirche, die den gesamten post-sowjetischen Raum als ihr kanonisches Territorium ansieht und nationale Grenzen als Gegebenheit der Gegenwart zwar toleriert, aber als spirituell und kulturell bedeutungslos erachtet. Die russische Kirchenleitung hat die ukrainische Orthodoxie trotz der Autonomie-Erklärung von 1991 nie als eigenständige Kirche mit eigener Identität verstanden, es fehlt ihr vollständig eine realistische Wahrnehmung innerukrainischer Prozesse. Gleichzeitig stellen ukrainische Gemeinden ein Drittel der Gesamtgröße der Kirche dar und die ukrainische Religiosität ist deutlich höher als in Russland selbst.

Die enge Verstrickung von Kirchenleitung und Politik ist historisch vorgeprägt und verhindert vor allem eine kritische Distanzierung zu staatlichen Aktivitäten. Die Ereignisse von 2014 – die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel Krim und die Unterstützung des Krieges in der Ostukraine –haben die Kirche unvorbereitet getroffen, sie unterwanderten den bis dahin vorhandenen Konsens von Politik und Kirche, nationale Grenzen zu respektieren und den Einfluss auf die Ukraine eher ideologisch auszuüben. Die Kirchenleitung beschränkte sich auf schweigende Zustimmung, wodurch sie massiv Vertrauen unter den eigenen Gläubigen in der Ukraine verlor. Das Schweigen setzte sich in den ersten Tagen nach der Invasion im Februar 2022 fort, erst wenige Tage danach begann Patriarch Kirill, die Ideologie des Krieges ausdrücklich kirchlich zu legitimieren. Diese Rhetorik hat sich seitdem verstärkt, innerkirchliche Repressionen gegen kritische Kirchenmitarbeiter auch im Ausland (Litauen, Belarus) sind ebenfalls zu beobachten. Die Kirche wirkt auch in den Streitkräften nicht mäßigend, sondern sie unterstützt die De-Humanisierung des Gegners durch Feindbilder und eine Sakralisierung des russischen Militärs. In der Öffentlichkeitsarbeit der Kirche fehlen der Krieg, das Leiden der ukrainischen Bevölkerung, die Kriegsverbrechen der russischen Armee, die Zerstörung von Kirchen und vor allem auch die Stellungnahmen der ukrainischen Kirchenleitung – immerhin offiziell Teil des Moskauer Patriarchats – vollständig. Diese Faktoren verdeutlichen, dass die kirchliche Position nicht (nur) durch staatlichen Druck bedingt ist, sondern zu weiten Teilen der Überzeugung und Strategie der Kirchenleitung entspricht.

Die Unterstützung der „Militäroperation“ durch die Kirche fördert vor allem die innerrussische Zustimmung. Dabei ist bedeutsam, dass die Kirche an keiner Stelle für einen Krieg spricht oder gegen die Ukraine hetzt, sondern sie positioniert das Handeln Russlands als Schutz vor Bedrohung und Selbstaufopferung des russischen Volkes gegen den Faschismus. Beide Feindbilder – der dekadente Westen und der Faschismus – wurden seit Jahrzehnten systematisch aufgebaut, auch in innerkirchlichen und ökumenischen Kreisen. Die Kirche ist „für das Gute“ und entzieht sich damit jeder Kritik etwa durch internationale ökumenische Kreise. Sie hat seit Jahrzehnten (bereits im Kalten Krieg) die Sprache über Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit systematisch ausgehöhlt, so dass vermittelnde Gespräche in dieser Sprache nicht möglich sind.

Es gibt allerdings innerhalb der Kirche eine kleine Gruppe von Gläubigen und Priestern, die sowohl die gesellschaftliche als auch die kirchliche Dramatik des Krieges verstehen und in dem sehr geringen Maß, welches die staatlichen und kirchlichen Repressionen zulassen, gegen den Krieg ankämpfen. Dies geschieht durch geschützte Räume in Kirchgemeinden und Gottesdiensten und ein großes Engagement bei der Flüchtlingshilfe, auch als Hilfe beim Verlassen Russlands. 

3        Die Rolle der Kirchen bei möglichen Verständigungsprozessen?

Religionen haben eine ambivalente Rolle in Konfliktsituationen, so auch die Kirchen in Russlands Krieg gegen die Ukraine. Die Kirchen verfügen sowohl in der Ukraine als auch in Russland über ein relativ großes Vertrauen in der Bevölkerung und können einen gewissen Einfluss auf Stimmungen in der Gesellschaft nehmen. In beiden Ländern ist der direkte Einfluss auf die Politik begrenzt, gleichzeitig bedingt das orthodoxe Erbe eine große Loyalität zur eigenen Staatsführung und der eigenen Armee. 

Für die Rolle der ukrainischen Kirchen ist wichtig, dass sie in der multireligiösen Gesellschaft nur eine von vielen Stimmen sind, die gleichzeitig durch die große Politisierung in den vergangenen Jahren an Glaubwürdigkeit verloren haben. Für die russische Kirche ist von Bedeutung, dass sie über keine eigene Friedensethik verfügt und darum in ihrem Umgang mit dem Krieg grundlegend von historischen und politischen Narrativen abhängig ist.

Aufgrund der beschriebenen Konstellationen ist eine vermittelnde Rolle der Kirchen im Krieg nahezu ausgeschlossen. Die Kirchen sind durch die religiöse Dimension des Krieges Teil des Problems. Für die Ukraine heißt das, dass die Kirchen vor einem Einsatz als Vermittler ihre eigenen Konflikte theologisch aufarbeiten müssten bzw. dass die Aufarbeitung der historischen und gegenwärtigen Verletzungen zwischen den Kirchen und Gläubigen (nur) ein Teil eines größeren Verständigungsprozesses sein müsste. Eine Annäherung zwischen ukrainischen und russischen Kirchen ist angesichts der umfassenden Verstrickung der russischen Kirche in die Kriegsführung nicht vorstellbar ohne ein grundlegendes Schuldbekenntnis der Russischen Orthodoxen Kirche. 

Auch die internationale christliche Gemeinschaft scheint durch den Krieg zwischen zwei christlichen Ländern überfordert. Es zeigt sich zum einen, dass die ökumenische Friedensethik seit vielen Jahren kaum mehr mit den orthodoxen Glaubensgeschwistern über dieses Thema substanziell verhandelt hat. Gesprächsversuche mit der Russischen Orthodoxen Kirche zeigen, dass man über keine gemeinsame Sprache verfügt, um das Ausmaß des Krieges, der Verbrechen der russischen Armee und die ideologische Schuld der Russischen Orthodoxen Kirche zur Sprache zu bringen. Zum anderen ist die christliche Weltgemeinschaft zutiefst in die Ideologie des Krieges – den „Kulturkampf“ zwischen verschiedenen Zivilisationen, das Gebot der postkolonialen Nichteinmischung in jeweils „andere“ Werteräume, die Kritik am „säkularen Liberalismus“ und dem Schutz der bedrängten Rechte christlicher Gläubiger – verstrickt. Sie hat darum der russischen Kirchenleitung kaum etwas entgegenzusetzen, da diese ja konsequent nicht zum Krieg aufruft, sondern nur mit Bedauern konstatiert, dass Waffengewalt für den Schutz der eigenen Zivilisation notwendig geworden sei. Und drittens ist die Möglichkeit westlicher Kirchen, in diesen orthodoxen Gesellschaften vermittelnd zu wirken, aufgrund diverser theologischer und historischer Brüche sehr begrenzt.

Notwendig wäre vor allem ein stärkeres Engagement der orthodoxen Weltgemeinschaft, etwa der kriegserfahrenen Kirchen auf dem Balkan und im Nahen Osten, um die Kirchen in Russland und der Ukraine in einen aufrichtigen Dialog zu bringen. Dies wäre seit 2018 dringend notwendig gewesen, allerdings hat sich seitdem die Spaltung zwischen den Kirchen nur vertieft und genau die kriegserfahrenen Kirchen stehen in großer Abhängigkeit von Russland und der russischen Kirche. Auch hier ist also eine Sprachlosigkeit zu konstatieren, die eine theologische oder pastoral-praktische Einflussnahme unmöglich macht.

*Dieser Text erscheint in: Werkner, Ines-Jacqueline et al. (Hrsg.): Wege aus dem Krieg in der Ukraine. Szenarien – Chancen – Risiken, Heidelberg: heiBOOKS, 2022 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 5).