Katja Makhotina

Grundsätzlich ist es schwierig, die Haltung der russischen Gesellschaft zum Krieg empirisch abzubilden. Eine genaue Statistik ist problematisch, da die Methoden der soziologischen Untersuchung bei einer strafrechtlich tabuisierten Frage nicht die Wirklichkeit widerspiegeln können. Öffentlich seine Meinung gegen den Krieg zu äußern, ist unmöglich, und die Umfragen bilden keine Realität, sondern oft nur das Wunschdenken des politischen Establishments ab. 

1          Aktuelle Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Russland

Die Verfolgung der Andersdenkenden wurde in Russland öffentlich wirksam dargestellt: Nach den neuen Strafgesetzparagrafen über die „Verbreitung der Fakes“ wurden bereits mehrere Personen zum Freiheitsentzug verurteilt. Bereits Anfang März 2022 wurde das Gesetz über die „Fake-News“ verabschiedet, das die strafrechtliche Verfolgung für die Verbreitung falscher Informationen oder „Nachrichten, die zur Diskreditierung der Streitkräfte führen“, vorsieht. Aufgestellt und öffentlich verbreitet wurde eine Liste mit „ausländischen Agenten“, ein Euphemismus für „Vaterlandsverräter“. Dadurch wurden wichtige Künstlerinnen und Künstler sowie Intellektuelle diskreditiert, ihre Bücher, Filme und Sendungen verboten. Zudem werden russische Bürgerinnen und Bürger, die mit politisch unerwünschten Stiftungen (zum Beispiel der Heinrich-Böll-Stiftung) zusammenarbeiten, strafrechtlich verfolgt. Ebenfalls wurde im Frühjahr 2022 eine totale Zensur verhängt: Es wurden mehrere tausend Websites, Facebook und Twitter blockiert, Verfahren gegen Journalistinnen und Journalisten sowie Bloggerinnen und Blogger eingeleitet und Dozhd, Novaya Gazeta, Ekho Moskvy, Radio Liberty sowie andere Sender geschlossen. Nur jüngere Menschen wissen, wie man eine Sperre umgehen kann, so dass gegenwärtig oppositionell eingestellte Ältere ohne jegliche Informationsquelle sind.

Jugendliche Anti-Kriegs-Demonstranten werden von Polizisten in die Ecke gedrängt.
Sadovaja-Str. in St. Petersburg, 6. März 2022. © Katja Makhotina

Seit dem Beginn des Ukrainekrieges sind die kritischsten Medien und Stimmen aus dem Land geflohen. Nur jene sind im Land geblieben, die kein soziales oder wirtschaftliches Kapital haben, ins Ausland zu gehen. Die ablehnende Haltung gegen den Krieg lässt sich somit sehr schwer quantifizieren, denn diese Gegenhaltung ist nur im privaten Kreis der Familie oder Freunde kommunizierbar. 

2          Die Handlungsmöglichkeiten der Anders-Denkenden in Russland

Dass es keine öffentlichen Proteste oder Demonstrationen gibt, steht mit dem besonders starken Grad der Abschreckung durch die Sicherheitsorgane im Zusammenhang. In großen Städten wie Moskau, Petersburg oder Jekaterinburg sind Polizeiwagen im Stadtbild präsent. Die Abschreckung funktioniert auch auf der beruflichen und wirtschaftlichen Ebene; die Menschen befürchten den Verlust des Arbeitsplatzes oder einen Rufmord wegen nicht-konformer Äußerungen. Zudem herrscht die Überzeugung vor, dass öffentliches Auftreten gegen die Regierung nicht die Methode ist, mit der etwas im Land bewirkt werden kann. Es fehlt am Bewusstsein für das eigene Selbst als ein politisches Subjekt.

Die einzige Möglichkeit der Handlung der Nicht-Einverstandenen bleibt das Engagement in der Flüchtlingshilfe für jene Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach Russland deportiert wurden. Durch die virtuellen Austauschplattformen suchen die Volontäre nach Unterkunft, Tickets und medizinischer Hilfe. In Russland haben sich die patriotische Erziehung in den Schulen und die „Hexenjagd“ auf ausländische Agenten ungemein verstärkt.  Dies ist unter anderem der Grund, warum viele Eltern, die es sich leisten können, sich dafür entscheiden, ihre Schulkinder im Homeschooling zu unterrichten. Das bedeutet, dass das Kind zwar nach wie vor in der Schule eingeschrieben ist, doch von einer physischen Abwesenheit im Unterricht befreit ist.

Zu beobachten ist zudem eine Dynamik der Reaktionen auf den Krieg: War in den ersten Kriegswochen vor allem Schock, Angst, Wut und Depression festzustellen, ist es seit dem Sommer 2022 in eine Haltung der Abstumpfung und des „Nicht-mehr-vom-Krieg-wissen-wollen“ umgeschlagen. Da psychologisch gesehen das Gefühl der Unsicherheit auf Dauer am schwersten auszuhalten ist, helfen sich die Russen mit der Einengung des lebensalltäglichen Interesses auf das private Umfeld, auf Familie, Kinder und Freunde. Es wird eine Barriere durch die Einsicht „Wir wissen nicht die ganze Wahrheit“ aufgebaut, man misstraut jeder Quelle, sei es aus der westlichen oder der patriotischen Berichterstattung. Das ist sicherlich eines der Ergebnisse der Putinschen Propagandapolitik – die Vorstellung, dass die Medien nur Fakes verbreiten und man niemandem mehr trauen kann. 

Bezeichnend ist die Haltung zur Verantwortung für die Handlungen der russischen Regierung. Verbreitet ist dabei die Einstellung: „Warum muss ich mich als Russe dafür verantwortlich bzw. schuldig fühlen?“ Man versteht sich als „eine Geisel im vom Terroristen gekidnappten Flugzeug“. Da (bislang) die russischen Streitkräfte vorwiegend aus Söldnern bestanden, kann man auch nicht von einer Identifikation mit der russischen Armee sprechen. 

3          Das historische Erbe der Kriegshaltung

Grundsätzlich lassen sich drei Positionen ausmachen: Ablehnung, Gleichgültigkeit und Unterstützung des Krieges gegen das Nachbarland. Die letztere sollte am wenigsten ausgeprägt sein, auch wenn sie im Westen medial wohl am stärksten vermittelt wird. Das Wort „Krieg“ ist in Russland in Anwendung an das Vorgehen in der Ukraine nicht von ungefähr strafrechtlich verboten. Stattdessen nutzen die Medien den Begriff „Spezialoperation“ oder „Friedensmission“. Der Kriegsbegriff ist erinnerungskulturell eindeutig negativ besetzt: Die Erinnerung an den verlustreichen Zweiten Weltkrieg mit 27 Millionen sowjetischen Opfern ist Teil des biografischen, familiären Gedächtnisses. Doch im Gegensatz zu den 1990er Jahren, als das Komitee der Soldatenmütter den Tschetschenienkrieg Jelzins öffentlich kritisierte, sind diese Stimmen heute unterdrückt. Das Bild des Verteidigers ist etwas, was die Kremlsche Propaganda auch in Anlehnung an das Erbe des Zweiten Weltkrieges zu vermitteln versucht: So gehe es angeblich um die Beendigung des „Genozids“ durch die Kiewer Regierung. Für dieses Narrativ investiert die russische Regierung seit 2020 enorm viel in die neue Geschichtspolitik. Das Bild, das der Kreml jetzt über den deutschen Krieg gegen die Sowjetunion (1941-1945) vermittelt, ist eine Abkehr von der üblichen sowjetischen Siegesrhetorik: Im Fokus steht jetzt das Leid der Zivilbevölkerung während des Krieges, das als Genozid definiert wird.

4          Die wirtschaftliche Komponente

Gesellschaftlich ist in der Mittelklasse am häufigsten eine grundsätzliche Ablehnung des Krieges mit einer großen Priorität für den eigenen Wohlstand anzutreffen. Diese ablehnende Haltung hat auch mit dem Verlust ökonomischer Sicherheit (wie zum Beispiel der Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund der Sanktionen etc.) zu tun. Viele Bürgerinnen und Bürger reagierten sehr negativ auf den Rückzug westlicher Unternehmen (und auch Stiftungen) aus Russland. Man kann sogar sagen, dass dieser dem gegenwärtigen Regime nur in die Hände gespielt hat: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer empfanden es als Ignoranz bzw. Verrat gegenüber der einfachen russischen Bevölkerung. Selbst die Opposition lehnt weitgehend die westlichen Visabeschränkungen ab.

Die Opposition in Russland ist aber auch gespalten: Einige unterstützen die Ukraine bedingungslos, während andere die Kämpfe beenden wollen und der ukrainischen Führung gegenüber negativ eingestellt sind. Dies führt zu gegenseitigen Anschuldigungen. Die Opposition hat in den letzten Jahren kein überzeugendes Programm vorgelegt, keine Position, auf die ein großer Teil des Volkes hören würde. Die in den Westen geflohenen Liberalen genießen keine Unterstützung von den im Land gebliebenen Russen, da die Exil-Community diese als „Putin-Treue“ stigmatisieren. Zu berücksichtigen ist hier allerdings, dass es für die Ausreise aus Russland wirtschaftliches und soziales Kapitel braucht. Abgesehen davon, dass die Jüngeren ihre älteren oder pflegebedürftigen Eltern nicht allein lassen wollen, kann sich finanziell nur eine Minderheit die Ausreise leisten. Zudem ist der Weg ins Exil auch strapaziös: Die Fluggesellschaften canceln allzu oft Flüge aus Russland, ohne das Geld zurückzuerstatten, was Menschen auch davon abbringt, es zu riskieren. So ist die Stimme der russischen Opposition nicht wirklich eine Hoffnung für Russland, und da es keine moralischen oder sozialen Autoritäten gibt, die sie vertreten, kann lässt sich der Staatspropaganda nur schwer widerstehen. Diese nutzt die Verwirrtheit und Verunsicherung in der Gesellschaft aus, um noch weiter zu spalten. Diese Desintegration der russischen Gesellschaft ist sicherlich ein Nährboden für die Kremlsche Propaganda der kollektiven Einheit.

Die unterstützende Haltung ist vielmehr in den ärmeren Schichten der Bevölkerung anzutreffen. Weder die Sanktionen der westlichen Unternehmen noch die Einschränkungen der Reisefreiheit haben eine Auswirkung auf ihren Alltag. Da die russische Gesellschaft sehr desintegriert und zerklüftet ist, spielt auch der Neid auf die besserverdienenden Großstädterinnen und -städter eine Rolle. Dass nun auch die besser verdienende, westlich orientierte Mittelklasse zu leiden hat, verstärkt die allgemeine Atmosphäre des sozialen Neids. Zudem nutzt die Regierung ihre imperialistische, extrem antiwestliche Rhetorik für die Mobilisierung der ärmeren russischen Bürgerinnen und Bürgern: War ein Krieg gegen die „Nazisten“ in der Ukraine ein eher diffuses Kriegsziel, so scheint der Krieg gegen den „kollektiven Westen“ propagandistisch effektiver zu sein. Das ist umso fataler, da die Soldaten für den Einsatz in der Ukraine gerade aus diesen armen, strukturschwachen Regionen Russlands angeworben werden.

5          Abschließende Anmerkungen zur aktuellen Situation angesichts der Teilmobilmachung vom 21. September 2022

 Proteste gegen die „Teilmobilisierung“ in St. Petersburg.
Polizisten in Vollmontur sind zahlreich präsent
und gehen gewaltsam gegen junge Frauen und Männer vor.
21. September 2022. © Anton Panchenko

Als die Arbeit an diesem Text beendet war, kam die Nachricht über die Teilmobilmachung in Russland für den Krieg gegen die Ukraine. Etwa 300.000 Männer werden in die Armee einberufen. Sie löste einen Schock in der Bevölkerung aus, denn auch wenn es sich um eine „Teil“-Mobilmachung handelt, ist klar, dass nur die Kinder der Abgeordneten und von Angehörigen im Polizei- und Staatssicherheitsdienst von der Einberufung ausgeschlossen werden. Das hat die fatale Folge, dass die Polizei bei den Antikriegsdemonstrationen nun umso härter durchgreift – sie hat keine Angst, selbst einberufen zu werden. Mittlerweile ist es allen in Russland bewusst, dass dieser Krieg für die russischen Soldaten mit enormen Verlusten einhergehen wird. Die Krankenhäuser sind bereits jetzt mit kriegsverletzten Soldaten überfüllt. Dass es schnell zu Tausenden neuen Toten führen wird, ist überaus deutlich. Zurzeit diskutieren russische Bürgerinnen und Bürger in den sozialen Netzwerken über die Möglichkeit, der Mobilisierung zu entgehen oder zu fliehen. Die Petition „Nein zur Mobilisierung“ hatte mittags des gleichen Tages bereits 200.000 Unterschriften gesammelt. Der Befehl zur Mobilisierung wird als „Mörderisierung“ (Mogilizacija) bezeichnet. Hinzu kommt, dass nur einen Tag vor diesem Beschluss der strafrechtliche Kodex ergänzt wurde; nun droht für die Weigerung, am Krieg teilzunehmen, eine Freiheitsstrafe von drei Jahren. Darüber hinaus wurden die Begriffe „Mobilmachung“ und „Kriegsrecht“ in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Es werden Menschen in die Armee eingezogen, von denen viele nicht kämpfen wollen und auch offen oder „für sich selbst“ gegen den Krieg und das Regime sind. Der größte Fehler Europas in dieser Situation wäre, diesen Menschen die Flucht aus Russland zu verunmöglichen.

*Dieser Text erscheint in: Werkner, Ines-Jacqueline et al. (Hrsg.): Wege aus dem Krieg in der Ukraine. Szenarien – Chancen – Risiken, Heidelberg: heiBOOKS, 2022 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 5).