Ines-Jacqueline Werkner

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Frieden und Freiheit werden häufig in einem Atemzug genannt. Beide Termini stellen zentrale Werte dar und gelten als untrennbar miteinander verbunden. Davon zeugen beispielsweise Aussagen politischer Akteure, sei es in den Grundsatzprogrammen der jeweiligen Parteien oder in Regierungsprogrammen. So spricht auch der aktuelle Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD davon, „Freiheit und Frieden zu sichern“. Dieser enge Zusammenhang beider Begriffe findet sich zugleich in kirchlichen Stellungnahmen. Die Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland geht in ihrem Leitbild des gerechten Friedens von vier Dimensionen des Friedens aus, charakterisiert durch den Schutz vor Gewalt, die Förderung der Freiheit, den Abbau von Not und die Anerkennung kultureller Verschiedenheit. Das heißt, auch hier werden Frieden und Freiheit in einem engen Kontext gedacht.
Was aber, wenn beides – Frieden und Freiheit – nicht zusammengeht?
Das zeigt sich aktuell am Ukrainekrieg, bei dem Hunderttausende von Ukrainerinnen und Ukrainern im Kampf gegen die russische Invasion ihr Leben riskieren und auch verlieren, „um ihre Freiheit, sei es als nationale, politische oder private Freiheit, zu retten oder zu erhalten“ (Klaus Günther und Uwe Volkmann). Ein innenpolitisches Beispiel stellt – ohne es an dieser Stelle weiter ausführen zu können – die Covid-19-Pandemie dar, in der sich ebenfalls ein Spannungsverhältnis zwischen Leben, Gesundheit und Freiheit auftat. Offen bleibt das Bedingungsverhältnis beider Werte – was genau dann virulent wird, wenn der Wunsch nach Frieden beziehungsweise Leben und der Wunsch nach Freiheit kollidieren. Was sind in solchen Konstellationen die Bedingungen, unter denen der Vorrang des Friedens/des Lebens beziehungsweise der Freiheit zu rechtfertigen ist? Oder mit den Worten von Klaus Günther und Uwe Volkmann formuliert: „Wie viele Tote oder […] welche Risiken für Leben und Gesundheit ist die Gesellschaft bereit in Kauf zu nehmen, um zu einem freiheitlichen Gesamtzustand im Sinne der früheren Normalität zurückzukehren?“
Freiheit bedeutet zunächst einmal Selbstbestimmung, dass „man selbst seinem Tun den bestimmten Inhalt gibt“ (Otfried Höffe). Das umfasst die Fähigkeit, Vorstellungen von den Zielen und Wegen seines Lebens zu entwickeln (das heißt: etwas zu wollen), und die Möglichkeit, demgemäß – ohne äußeren Zwang – zu handeln. Im sozialen Kontext ist die individuelle Freiheit aber auch begrenzt: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit Anderer beeinträchtigt. Dieses gesellschaftliche Grundprinzip der Freiheit ist gebunden an einen Rechtszustand. Das beinhaltet die Akzeptanz, ohne Gewalt den Ausgleich zu suchen. Rechtsverhältnisse dieser Art können nur unter Bedingungen des Friedens verwirklicht werden. Erst Frieden schafft den Raum für Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit. Das gilt aber auch umgekehrt: Der Frieden, der auf die Verhinderung des Krieges (einschließlich der Bereitschaft zum Krieg) setzt – und zwar dauerhaft –, fußt auf verschiedenen Voraussetzungen. Dazu gehört – neben anderen Dimensionen – der Schutz der Freiheit. So heißt es auch in der Friedensdenkschrift der EKD von 2007:
„Der gerechte Friede umfasst nicht nur das faktische Überleben, sondern eine bestimmte Qualität menschlichen Lebens, ein Leben in Würde; er erfordert deshalb die Förderung der Freiheit. […] Friede in Freiheit ist die Chance, ein gegen Gewalt und Unterdrückung geschütztes Zusammenleben zu führen, in dem Menschen von ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten kraft eigener Entscheidung gemeinschaftlichen Gebrauch machen können“.
In diesem Sinne setzt Frieden Freiheit voraus. Bei beiden Termini – Frieden und Freiheit – handelt es sich also um ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Kommt es zwischen ihnen zu Zielkonflikten, muss abgewogen werden, welcher Wert in der konkreten Situation als fundamentaler und ethisch dringlicher angesehen wird, ohne aber den anderen aus dem Blick zu verlieren.
In der aktuellen Debatte um den Ukrainekrieg sind solche differenzierten Abwägungsüberlegungen eher selten anzutreffen; stattdessen dominieren Positionierungen an den beiden Polen: Auf der einen Seite sind es die pazifistischen Stimmen mit der Tendenz, den Frieden absolut zu setzen. Kann – so die sich unmittelbar aufdrängende Frage – etwas daran verkehrt sein, sich gerade in Kriegszeiten für den Frieden einzusetzen? Stellt nicht bereits der negative Frieden, das heißt die Abwesenheit von Krieg, angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage einen Wert an sich dar? Schon Willy Brandt konstatierte: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Die Gefahr dieser Position liegt letztlich in dem Versuch, das Bedingungsverhältnis einseitig auflösen zu wollen. Dann wird der Wert der Freiheit sekundär; die bloße Existenz sichert aber weder ein Leben in Freiheit noch einen dauerhaften Frieden. Genau hier setzt die entgegengesetzte Position an: So würden beispielsweise Waffenlieferungen zwar das Töten und Sterben verlängern, aber: „Wenn man das ablehnt, muss man sich […] im Klaren sein, dass der Preis dafür wahrscheinlich Unfreiheit ist“ (Thomas De Maizière). „Keine Waffen zu liefern, das würde darauf hinauslaufen, dass die Diktatoren, die Krieg als Mittel der Politik einsetzen, letztlich die Welt regieren können“ (Sönke Neitzel). Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Argumentation sind bereit, um der Freiheit willen auch die Existenz zu riskieren. Hier besteht die Gefahr, die Freiheit absolut zu setzen. Dagegen wendet sich beispielsweise Jürgen Habermas, wenn er konstatiert: „Man kann nicht die Würde einer Person schützen wollen und deren Physis versehren lassen.“
Die Notwendigkeit des Abwägens „ergibt sich aus dem Umstand, dass es mehr als ein Grundrecht gibt und kein Grundrecht grenzenlos gilt“ (Klaus Günther). Dabei lässt sich kein Wert oder Grundrecht absolut setzen. Einseitige Vorrangordnungen zwischen Frieden und Freiheit werden ihrem Bedingungsverhältnis nicht gerecht. Friedensethisch bedeutet es, die Spannung zwischen Frieden und Freiheit ernst zu nehmen und diese auszuhalten – auflösen lässt sie sich nicht. Vielmehr kommt es darauf an, den jeweils anderen Wert stets mitzudenken und in das Handeln einzubeziehen. Historisch steht hierfür beispielsweise der NATO-Doppelbeschluss, der zwei Aspekte – Aufrüstung und Verhandlungen zur Rüstungskontrolle – enthielt, die sich beide einander ergänzten. Zu verhindern ist letztlich sowohl ein moralisierender wie auch ein realpolitischer Dogmatismus. Zudem sind Prima-Facie-Plausibilitäten kritisch zu hinterfragen. So erweist es sich beispielsweise als einseitig, wenn man es als gesetzt sieht, dass Wladimir Putin nach der Ukraine auch das NATO-Gebiet angreifen wird und wir uns voraussichtlich ab 2029 mit Russland im Krieg befinden werden. Solche Argumentationen verkennen, dass Handlungen und Entwicklungen auch Kalküle verändern können. Es geht um einen Transformationsimperativ: Putin wird sich nicht zu einem Friedensengel transformieren lassen, aber es können Konstellationen entstehen, die seine Interessen verändern.
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