Ines-Jacqueline Werkner
© stevepb/Pixabay
Der Westen unterstützt die Ukraine im russischen Angriffskrieg – militärisch, finanziell wie humanitär. Die größten Unterstützer sind die USA. Ihre Hilfe beläuft sich einschließlich der Ende April 2024 vom US-Kongress freigegebenen Mittel in Höhe von rund 61 Milliarden US-Dollar auf bislang insgesamt rund 169 Milliarden US-Dollar (Statista, Stand 30. April 2024). Der zweitgrößte Geldgeber ist die Europäische Union; hierbei handelt es sich vor allem um finanzielle Hilfen. Deutschland unterstützt die Ukraine – ähnlich wie die USA – vorrangig militärisch. Für Waffen und militärische Ausrüstung hat Deutschland der Ukraine inzwischen etwa 28 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt bzw. für die kommenden Jahre bereitgestellt (Bundesregierung, Stand: 29. Juli 2024). Anfänglich wurden die Waffenlieferungen für die Ukraine damit begründet, den Druck auf Russlands Präsident Wladimir Putin zu erhöhen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Dafür sollte die Ukraine in eine starke Verhandlungsposition gebracht werden. Dieses Moment scheint verpasst und Russland derzeit im Begriff, militärisch die Oberhand zu gewinnen. Russische Truppen rücken – ungeachtet der gegenwärtigen ukrainischen Offensive in Kursk – weiter in der Ostukraine vor. So ist diese Argumentation auch weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Inzwischen sprechen die westlichen Unterstützerstaaten – von Joe Biden bis Olaf Scholz – nur noch davon, die Ukraine zu unterstützen „as long as it takes“. Doch was bedeutet das genau? Was ist das konkrete Ziel dieser Militärhilfen und welche Strategie verfolgt der Westen?
Politik geht nicht ohne Strategie.
Dieser Satz ist so einfach wie essenziell. Bereits der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca konstatierte: „Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind der richtige.“ Nach Joachim Raschke und Ralf Tils sind politische Strategien „erfolgsorientierte Konstrukte, die auf situationsübergreifenden Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulationen beruhen“. Dabei sind „Ziele, Mittel und Umwelt so miteinander in Beziehung zu setzen, dass als Folge des strategischen Handelns eine bestmögliche Zielverwirklichung herauskommt“ (Elmar Wiesendahl). Das heißt: Neben Zielen und Mitteln zur Erreichung dieser Ziele kommt als dritte Komponente die Umwelt – oder anders formuliert: die gegebenen Verhältnisse und Handlungsspielräume – dazu. Sie sind ein entscheidender Faktor einer jeden politischen Strategie und „die Prüfinstanz, gegenüber der sich Ziele als realistisch bewähren oder im Illusionären enden“ (Elmar Wiesendahl).
Voraussetzung jeder Strategie ist eine realistische Situationsanalyse.
Eine solche realistische Situationsanalyse, der Ausgangspunkt einer jeden politischen Strategie, wurde beim Ukrainekrieg weitgehend versäumt. Vor diesem Hintergrund haben auch die bislang verfolgten Maßnahmen des Westens – Sanktionen gegen Russland und Militärhilfe für die Ukraine – ihre beabsichtigte Wirkung nicht entfalten können. Zum einen ließen die westlichen Sanktionen gegen Russland, so umfangreich sie auch waren bzw. sind, die russische Wirtschaft nicht zusammenbrechen. Hier hat der Westen die Rolle des Globalen Südens und seine Beziehungen zu Russland unterschätzt:
„Die Sanktionen konnten nicht wirken […], weil man auf den Globalen Süden setzen muss. Warum soll der Globale Süden ein Interesse daran haben, sich an einer Polarisierung der Welt, die von den ehemaligen Kolonialmächten ausgeht, zu beteiligen? Nein, sie haben völlig andere Interessen. Sie stehen sozusagen als Dritte außen vor und nehmen sich das Beste aus dieser Konfliktlage“ (Wolfgang Richter bei Markus Lanz am 11. Juni 2024).
Und auch im Hinblick auf die Militärhilfe für die Ukraine fehlt es dem Westen an einer realistischen Situationsanalyse. So ist zum einen die Militärhilfe mit einer großen Unsicherheit behaftet: Käme es nach den US-amerikanischen Wahlen im November 2024 zu Trump 2.0, könnte der größte Unterstützer der Ukraine wegfallen. Die Europäer wären dann nicht in der Lage, die US-amerikanischen Hilfen zu kompensieren. Waffen- und Munitionslieferungen in größerem Umfang benötigen Zeit. Dieser Faktor hätte von Anfang an stärker berücksichtigt und mit einbezogen werden müssen. Denn abgesehen von den hohen finanziellen Kosten, die die europäischen Staaten zunächst innenpolitisch durchsetzen und aufbringen müssen, sind auch verbindliche Absprachen mit den nationalen Rüstungsindustrien und entsprechende Abnahmegarantien nötig. Schließlich verfügen die EU-Staaten über keine Kriegswirtschaft und haben, wenn die Unternehmen nicht verstaatlicht sind, keinen unmittelbaren Einfluss auf die Waffen- und Munitionsproduktion.
Zum anderen benötigt ein Krieg nicht nur Waffen und Munition, sondern auch Soldaten. Die Ukraine hat mittlerweile ein massives Personalproblem, das sich mit zunehmender Dauer des Krieges noch verschärfen wird:
„Selbst wenn wir es schaffen, die materielle Seite vielleicht noch einigermaßen sicherzustellen für die Ukrainer, wir werden es nicht schaffen, deren Personalnöte auszugleichen, es sei denn, man schreitet über den Rubikon und sagt, wir schicken Personal“ (Wolfgang Richter bei Markus Lanz am 11. Juni 2024).
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat im Februar 2024 einen solchen Vorstoß unternommen und westliche Bodentruppen ins Gespräch gebracht, dafür aber viel Kritik erfahren. Bislang weigert sich die NATO, Truppen in die Ukraine zu entsenden, obgleich eine solche Option völkerrechtlich legal wie auch ethisch legitim wäre. Diese Selbstbeschränkungen des Westens müssen in der Strategie mitberücksichtigt werden, minimieren sie die Bandbreite der erreichbaren Ziele.
Der Westen muss seine Ziele konkretisieren und für sein Handeln Verantwortung übernehmen.
Abgesehen von einer weitgehend fehlenden realistischen Situationsanalyse stellt sich noch ein zweites Problem: Was will der Westen mit seiner Militärhilfe für die Ukraine eigentlich erreichen? Gegenwärtig dominieren im öffentlichen Diskurs Maxime wie „die Ukraine muss gewinnen“ oder zumindest „die Ukraine darf nicht verlieren und Russland nicht gewinnen“. Was das aber genau heißt, bleibt völlig unklar: Weder wird definiert, was „gewinnen“ bzw. „nicht verlieren“ bedeutet, noch wird offengelegt, ob – da Verhandlungen für aussichtslos erklärt werden – der Krieg auf dem Schlachtfeld beendet werden soll. Auch bleibt unbestimmt, wie weit der Westen bereit ist zu gehen, wenn die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann.
Politische Akteure machen diesen Verzicht auf politische Ziele dann auch noch zur Tugend nach der Devise: Wie weit der Krieg gehe und was das Ziel sei, könne nicht über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg entschieden werden, das könne nur die Ukraine selbst bestimmen. Damit macht es sich der Westen aber zu einfach. Wer Waffen und militärische Ausrüstung in ein Kriegsgebiet liefert und damit „den Krieg gewissermaßen am Laufen [hält]“ (Jürgen Habermas), übernimmt eine Mitverantwortung für den weiteren Verlauf des Krieges:
„Ganz unabhängig vom Widerstandswillen der Ukraine trägt er mit seiner logistischen Hilfe und seinen Waffensystemen eine Mitverantwortung für die täglichen Opfer des Krieges – für jeden weiteren Toten, jeden weiteren Verwundeten und jede weitere Zerstörung von Krankenhäusern und lebenswichtigen Infrastrukturen. Daher wäre es auch kein Verrat an der Ukraine, sondern eine normativ gebotene Selbstverständlichkeit, wenn die USA und Europa hartnäckig alle Chancen für einen Waffenstillstand und einen für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss ausloten würden“ (Jürgen Habermas).
Wer wie Jürgen Habermas solches anmahnt, wird häufig verunglimpft oder bestenfalls missverstanden. Dabei stellt er sich in keiner Weise gegen eine wirkungsvolle westliche Unterstützung der Ukraine, wohl aber gegen „den Verzicht auf eigene Perspektiven und Ziele des militärischen Beistandes“ und gegen „die Verleugnung der eigenen moralischen Mitverantwortung für die Opfer des Krieges“. Damit hat Habermas einen weiteren Punkt: Es fehlt dem Westen nicht nur an der konkreten Zielsetzung seiner Militärhilfe für die Ukraine, sondern auch an der Übernahme von Verantwortung, die er für sein Handeln – und zwar unabhängig, wie dieses Handelns aussieht – trägt.
Fazit
Im dritten Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine reicht es bei Weitem nicht mehr aus, wenn politische Akteure betonen, wie groß ihre Unterstützung für die Ukraine ist und welche Mittel sie aufwenden, um Waffen und Munition zu liefern, damit die Ukraine sich verteidigen kann. Vielmehr bedarf es einer politischen Strategie des Westens. Dafür ist erstens eine klar definierte Zielsetzung nötig, die über allgemeine Formeln hinausgehen muss. Was hieße beispielsweise ein Sieg der Ukraine? Bemisst sich dieser an den territorialen Grenzen vor Februar 2022 oder vor 2014 oder aber – wie es der Politikwissenschaftler Thorsten Brenner vorschlägt – an der Bewahrung der Staatlichkeit, der wirtschaftlichen Tragfähigkeit und der Abschreckung zukünftiger potenzieller russischer Aggressionen? Zweitens sollte stets im Blick sein, dass Ziele an dem Ist-Zustand ansetzen müssen und keine „Wünsch-Dir-was-Präferenzen“ (Elmar Wiesendahl) darstellen. Diesen Realismus lässt die Politik bisweilen vermissen. Und drittens gilt es für den Westen, angesichts seiner Waffenlieferungen eine Mitverantwortung für den Fortgang des Krieges zu übernehmen und diesen nicht nur „der ukrainischen Regierung und dem Waffenglück ihrer Soldaten“ (Jürgen Habermas) zu überlassen.
Schreibe einen Kommentar