Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt

Folge 6: Türkei

Abdullah Kasim Korkusuz*

© Official Website of the President of Ukraine, www.president.gov.ua, 18. August 2022, „President of Ukraine, the President of Türkiye and the UN Secretary-General held a trilateral meeting in Lviv”,  CC BY-NC-ND 4.0

Kurz nachdem russische Truppen in die Ukraine einmarschiert waren, stellte sich auch in der Türkei die Frage, wie mit dem Ukrainekrieg umgegangen werden sollte. Die Frage war nicht neu, denn schon mit der Annexion der Krim spielte der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland auf der außenpolitischen Agenda der Türkei eine besondere Rolle. Dass die Türkei seit jeher politisch, wirtschaftlich und kulturell enge Beziehungen zu beiden Seiten pflegt, stellt die türkische Außenpolitik vor enorme Herausforderungen. Die mit dem Krieg noch deutlicher gewordenen Gegenpositionen zwischen der NATO und Russland erschweren eine klare Stellungnahme der Türkei und sind eine Bewährungsprobe für ihre Außenpolitik. 

Krieg in der unmittelbaren Nachbarschaft: Reaktionen der Türkei

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan fand bereits einige Tage nach dem russischen Angriff eindeutige Worte. In seiner Rede im Präsidentschaftspalast verurteilte er die russische Intervention in der Ukraine als völkerrechtswidrig und inakzeptabel. Zusätzlich betonte er die negativen Auswirkungen des russischen Angriffs auf den Frieden in der Region. Bereits in dieser Rede erwähnt der türkische Präsident aber auch, dass die Türkei zu beiden Ländern gute Beziehungen pflege und der Krieg somit besonders bedauerlich sei. Das Dilemma, zwischen den Fronten zu stehen, wurde somit schon frühzeitig deutlich. Dennoch positioniert sich die Türkei auf der Seite der Ukraine. Nach Erdoğan sei die Unversehrtheit der ukrainischen Staatsgrenzen inklusive der Krim das oberste völkerrechtliche Gebot. In den Abstimmungen der UN-Vollversammlung blieb die Türkei ihrer diplomatischen Linie treu. Der ersten Resolution (A/RES/ES-11/1) gegen die russische Aggression in der Ukraine vom 2. März 2022 stimmte sie zu. Den darauffolgenden UN-Resolutionen, in denen humanitäre Konsequenzen (ES-11/2) verdeutlicht und Russland aus dem Menschenrechtsrat ausgeschlossen wurde (ES-11/3), stimmte die Türkei ebenfalls zu. Die UN-Resolutionen im Oktober und November 2022, welche die territoriale Integrität der Ukraine verteidigen (ES-11/4) und Russlands Verantwortung und Verpflichtung zur Wiedergutmachung beschließen (ES-11/5), bejahte Ankara gleichermaßen. 

Mit einer diplomatischen Unterstützung der ukrainischen Seite ging die Sperrung der türkischen Meerengen für russische Kriegsschiffe einher. Hierzu verwies der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu einige Tage nach Kriegsbeginn auf das im Vertrag von Montreux verankerte Recht der Türkei, im Kriegsfall den Kriegsparteien die Durchfahrt der türkischen Meerengen zu verweigern. Im Anschluss wurden der Bosporus und die Dardanellen für russische Kriegsschiffe gesperrt. Davon ausgenommen sind Handelsschiffe. Dennoch setzte die Türkei im Juni 2022 auf Anfrage der Ukraine ein unter russischer Flagge fahrendes Handelsschiff vorübergehend fest, welches von Russland widerrechtlich entwendetes ukrainisches Getreide enthielt. Diese Situation blieb aufgrund einer möglichen Eskalation zwischen der Türkei und Russland die Ausnahme.

Mit der Intensivierung des Krieges entschied sich die Türkei, die Ukraine mit humanitären Hilfsleistungen zu unterstützen. Hinzu kommt die militärische Unterstützung in Form von Kampfdrohnen, wobei die in den Medien oft angesprochenen türkischen Kampfdrohnen von Baykar auch schon vor dem russischen Angriff in die Ukraine exportiert wurden. Mit Fortschreiten des Krieges baute das türkische Unternehmen Baykar diese Unterstützung weiter aus. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavuşoğlu äußerte sich zur Schenkung und zum Verkauf von Kampfdrohnen an die Ukraine eher verhalten. So sei Baykar ein privatwirtschaftliches Unternehmen und könne somit eigenständige Entscheidungen treffen. Zudem handele es sich nach dem Verkauf auch nicht mehr um türkische, sondern ukrainische Kampfdrohnen. Diese Erklärung des türkischen Außenministers macht noch einmal deutlich, dass die Türkei keinerlei Eskalation mit Russland riskieren möchte. In diesem Zusammenhang steht auch, dass die Türkei trotz ihrer eindeutigen Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine darauf verzichtet, die von westlichen Bündnispartnern beschlossenen Sanktionen gegen Russland mitzutragen. Der türkische Außenminister Çavuşoğlu begründet diese Haltung mit dem Anspruch, zwischen den Konfliktparteien vermitteln zu wollen. 

Türkische Vermittlungsbemühungen zwischen den Fronten

Zweifelsfrei hat der Konflikt einen hohen Stellenwert in der türkischen Außenpolitik. Mit der Ukraine und Russland stehen sich zwei Nachbarn und Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres entgegen. Der vom türkischen Präsidenten Erdoğan angesprochenen Gefährdung der regionalen Stabilität versucht die Türkei mit einer Vermittlung zwischen den Konfliktparteien entgegenzuwirken. Ein Beispiel hierfür ist das von Mevlüt Çavuşoğlu im Jahre 2020 ins Leben gerufene Antalya Diplomacy Forum (ADF). Dieses dient als Grundlage für Gespräche zwischen den Konfliktparteien. Im Rahmen dieses Forums trafen sich im März 2022 der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba und der russische Außenminister Sergej Lawrow mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu in Antalya. In einem Dreiergespräch diskutierten sie einen Waffenstillstand sowie mögliche Fluchtkorridore für Zivilistinnen und Zivilisten. Im Nachhinein betonte der ukrainische Außenminister, dass keine konkreten Ergebnisse erzielt werden konnten. Gleichwohl sei er weiterhin bereit, Gespräche im selben Format fortzusetzen. Im Nachgang des Antalya Diplomacy Forum versuchte die Türkei, fortlaufend zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln und Verhandlungen einzuleiten. Verhandlungen zu Gefangenenaustauschen erwiesen sich mehrmals als erfolgreich. Und auch das im Juni 2022 in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen erarbeitete und Mitte November 2022 verlängerte Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine ist von herausragender Bedeutung.

Hintergründe türkischer Gleichgewichtspolitik

In ihren Reden und Statements beziehen sich sowohl der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan als auch Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu auf den Begriff der Gleichgewichtspolitik (denge politikası). Im Kontext des Ukrainekrieges steht türkische Gleichgewichtspolitik für das Ziel, im Lichte freundschaftlicher Beziehungen zu beiden Konfliktparteien zwischen eben diesen vermitteln und den Krieg so bald wie möglich beenden zu wollen. Neben der offiziellen Position können drei weitere Hintergründe ausgemacht werden: wirtschaftliche Interessen, Innenpolitik und Regionalmachtansprüche.

Wirtschaftliche Interessen: Russland ist der mit Abstand wichtigste Importpartner der Türkei. Hierzu zählen unter anderem Energie- und Weizenimporte, mit denen die Türkei einen großen Teil ihres Bedarfs deckt. Das geplante Kernkraftwerk Akkuyu im Süden der Türkei ist ein weiteres Aushängeschild der türkisch-russischen Zusammenarbeit. Die Beziehungen zur Ukraine haben für die Regierung in Ankara ebenfalls einen hohen Stellenwert. Die Türkei ist einer der größeren ausländischen Investoren in der Ukraine und verzeichnet durch den Ukrainekrieg aktuell wirtschaftliche Verluste. Nennenswerte Kooperationsfelder sind gemeinsame Projekte im militärischen und baugewerblichen Bereich. In diesem Kontext spielt auch der Tourismus eine wichtige Rolle. Reisende aus Russland und der Ukraine machten bislang fast ein Viertel der Touristinnen und Touristen in der Türkei aus. Gerade im Zusammenhang mit dem türkischen Handelsbilanzdefizit und einer schwachen Währung gewinnt der Tourismus an Bedeutung. Im Jahre 2022 betrugen die Tourismuseinnahmen der Türkei ca. 45 Milliarden US-Dollar, welches 18 Prozent der Exporte ausmachte und existenzielle Deviseneinnahmen einbrachte. Ein Vergleich zwischen den Wirtschaftsbeziehungen liefert wichtige Punkte: Das Handelsvolumen mit Russland ist um ein Vielfaches höher als das mit der Ukraine. In der Tourismusbranche verhält es sich ähnlich – Tendenz steigend.

Außenpolitik ist Innenpolitik: Mitte 2023 stehen die nächsten Wahlen in der Türkei bevor. Die Argumentation, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan durch außenpolitische Erfolge versucht, im Inland Stimmen zu gewinnen, gehört zur politischen Praxis. Von daher dürfte es für Erdoğan entscheidend sein, wie seine Positionierung im Ukrainekrieg im Inland aufgenommen wird. Nach einer Umfrage von Areda Survey stimmen mehr als zwei Drittel der Aussage zu, dass Russland einen ungerechtfertigten Krieg führe. Die Verurteilung des russischen Angriffs ist der gemeinsame Nenner zwischen Regierung, Opposition und der Bevölkerung. Doch trotz der Kritik aus den Reihen der Opposition findet die Gleichgewichtspolitik der türkischen Regierung breiten Zuspruch in der Bevölkerung.Beispielsweise stimmen in der Umfrage von Areda Survey ca. 90 Prozent der befragten Personen dafür, dass die Türkei ihre Neutralität im Konflikt wahren solle. Gleichermaßen lässt sich der Wunsch nach Neutralität bei der Umfrage von Aksoy Araştırma parteiübergreifend mit einer Zustimmung von ca. 80 Prozent erkennen. Auch die Sanktionspolitik der Regierung findet Anklang in der Bevölkerung. In der Meinungsumfrage von Türkiye Raporu befürworten ca. 70 Prozent, dass die Türkei Sanktionen gegen Russland nicht mittragen sollte. 

Regionalmachtansprüche der Türkei: Die Türkei erhebt den Anspruch, eine Regionalmacht mit Gestaltungswillen und auf Augenhöhe mit anderen weltpolitischen Akteuren zu sein. Hierbei scheut sich Ankara nicht vor Konflikten. Mit Griechenland befindet sich die Türkei seit jeher in einem Streit um Gebietsansprüche und Ressourcen im Mittelmeer. Ein weiteres Paradebeispiel ist der verbale Schlagabtausch zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Jahre 2019, ob die NATO „hirntod” sei. Auch zwischen der Türkei und Russland bestehen konträre Positionen, so unterstützen beide Länder in Libyen und Syrien gegensätzliche Konfliktparteien. Seit dem Ukrainekrieg wird der türkische Anspruch einer eigenen außenpolitischen Agenda weiter deutlich: Mögliche NATO-Beitritte Schwedens, Finnlands und der Ukraine betrachtet die Türkei mit Skepsis. Während inzwischen Zustimmung zum finnischen Beitritt signalisiert wird, lehnt die Türkei nach wie vor den Beitritt Schwedens ab. Die Blockadehaltung lässt sich durch die als terroristisch eingestufte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) erklären. Zeichen und Banner der PKK sind in Schweden aufgrund der dortigen Rechtslage nicht verboten. Das kritisiert die Türkei schon seit längerem. Westliche Bündnispartner wiederum beanstanden, dass die Türkei ihr Vetorecht in der NATO für die Durchsetzung eigener Interessen ausnutze. Insbesondere aber sieht sich die Türkei, die westliche Bemühungen einer Konfliktlösung mit Wladimir Putin als erfolgs- und hoffnungslos betrachtet, als potenzieller Vermittler im Ukrainekrieg. Auch hierfür steht ihre Gleichgewichtspolitik. 

Ausblick

Derzeit scheint ein Frieden weit entfernt. Dennoch könnte eine schrittweise Vermittlung zwischen den Konfliktparteien mit der Türkei als Mediator einen bedeutsamen Beitrag zur Konfliktregelung leisten. Früher oder später wird es Kommunikationswege nach Russland und zum russischen Präsidenten Wladimir Putin brauchen. Die enge persönliche Beziehung zwischen dem türkischen und russischen Präsidenten könnte hierbei bedeutend sein. Außerdem spielt es der Türkei in die Karten, dass westliche Länder aufgrund ihrer eindeutigen Positionierung derzeit nur begrenzte diplomatische Möglichkeiten haben. Die Türkei könnte ihr Potenzial als Brücke zwischen Ost und West, Asien und Europa sowie Orient und Okzident nutzen. Auf der diplomatischen Bühne agiert die Türkei bereits dementsprechend wie die erfolgreichen Vermittlungen zum Austausch von Gefangengen und Fluchtkorridoren sowie das in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen erarbeitete Getreideabkommen zeigen. Ungeachtet dessen ist die Gleichgewichtspolitik der türkischen Regierung nicht uneigennützig, sondern stets auch Ausdruck eigener Interessen.

*Der Autor hat den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.