Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt
Folge 7: Südafrika
Felix Zerban*
Unmittelbar nach dem Beginn des Ukrainekrieges forderte das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und Kooperation der Republik Südafrika Russland auf, „unverzüglich alle Truppen aus der Ukraine abzuziehen“.
Zudem solle – so das Ministerium – Russland und die Ukraine ihre Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln beilegen, um den internationalen Frieden nicht zu gefährden. Diese Forderung kam unerwartet und das Statement wurde auch sogleich wieder von Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa zurückgenommen. Nicht nur, dass dieses Statement nicht mit ihm abgestimmt war, widersprach es vor allem Südafrikas Positionierung als neutraler Staat. Ziel ist es hierbei, sich auf keine der beiden Seiten zu stellen und keine der Konfliktparteien öffentlich zu verurteilen. Dieses Vorgehen ist in der südafrikanischen Geschichte durchaus kein Novum. Es begründet sich auch durch das Non-Aligned Movement, welchem sich Südafrika 1994 angeschlossen hat. Über 100 Staaten sind inzwischen dieser Internationalen Organisation beigetreten. Gegründet wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg und hatte ihren Höhepunkt während des Kalten Krieges. Die Mitglieder gehörten weder dem Ost- noch dem West-Militärblock an und verhielten sich neutral. Die Voraussetzung einer Mitgliedschaft ist somit, kein Teil eines Militärbündnisses, wie beispielsweise der NATO, zu sein.
Besonders deutlich wird die Rechtfertigung des Standpunktes der Neutralität in einem offenen Brief von Ramaphosa am 7. März 2022. In diesem wendet er sich direkt an das südafrikanische Volk und begründet die Enthaltung Südafrikas bei der UN-Resolution Anfang März gegen Russland. Dabei habe sich Südafrika – so der Präsident – durch seine Stimmenthaltung nicht auf die falsche Seite der Geschichte gestellt. Vielmehr stehe das Land auf der Seite des Friedens. In diesem Sinne fordere Südafrika auch alle beteiligten Akteure auf, den Konflikt friedlich zu lösen. Im Ergebnis müsse eine Vereinbarung für die Einstellungen der Feindseligkeiten stehen. Hier setzt die Kritik an der UN-Resolution an, die den Fokus nicht ausreichend auf eine friedliche Lösung durch politischen Dialog lege. Diesen Standpunkt bekräftigte und bestätigte Ramaphosa nochmals einige Tage später bei einer Befragung vor dem südafrikanischen Parlament. Diese neutrale Haltung werde – so Ramaphosa – nicht geändert, auch wenn es in seinem Land oder anderswo Menschen gibt, die wollen, dass Südafrika eine gegenteilige Position einnehme. Überraschend scharf, da im Widerspruch zur neutralen Haltung stehend, attackiert Ramaphosa dann aber die NATO, welche maßgeblich an der Eskalation beteiligt sei. Danach hätte der Konflikt verhindert werden können, wenn die Osterweiterung der NATO nicht weiterverfolgt worden wäre. Sanktionen jeglicher Art, welche nicht durch die Vereinten Nationen beschlossen werden, führten zu keiner Beilegung des Konflikts und seien sogar kontraproduktiv für den Friedensprozess.
Wie neutral ist die südafrikanische Neutralität?
An dieser Stelle gilt es, kritisch zu hinterfragen, inwieweit Südafrikas Regierung mit ihrer Positionierung tatsächlich die gewünschte und vielfach propagierte Neutralität in diesem Konflikt erreicht oder ob diese Haltung nicht als ein pro-russisches Statement verstanden werden muss. Hier lassen Handlungen wie die Teilnahme der Ministerin für Verteidigung und Veteranenangelegenheit und weiterer ANC-Mitglieder an einem Treffen in Pretoria berechtigte Zweifel am Neutralitätsstandpunkt aufkommen. Dieses Treffen fand gerade einmal dreizehn Stunden nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine statt. Eingeladen hatte hierbei der russische Botschafter zu Ehren der russischen Streitkräfte. Aber auch die gemeinsamen Marineübungen zwischen Russland, China und Südafrika – die letzte fand im Februar 2023 vor der südafrikanischen Küste statt – lassen Zweifel an der Neutralität aufkommen. Das sind nur einige Beispiele, die Fragen nach der Neutralität Südafrikas aufwerfen lassen. Es wird interessant zu beobachten sein, wie Südafrika mit dieser Situation in der Zukunft umgehen wird – insbesondere, wenn Südafrika den Vorwurf der nicht vorhandenen Neutralität nicht entkräfteten kann und sich weiter durch Handlungen und Äußerungen gen Russland orientiert. Auch wird sich dann zeigen, ob Teile der westlichen Staaten wirtschaftliche oder entwicklungspolitische Konsequenzen ziehen, wenn dies Südafrika nicht gelingt. Generell stellt sich die Frage, ob es überhaupt Neutralität geben kann oder ob selbst eine vermeintlich neutrale Haltung nicht schon eine klare Positionierung darstellt.
Einblicke hinter die südafrikanische Positionierung
Was steht hinter der Haltung Südafrikas? Viele Mitglieder des ANC dürften die Unterstützung seitens der Sowjetunion im Kampf gegen die Apartheid bis heute nicht vergessen haben. Damals erhielten Mitglieder des ANC Ausbildung und Training in der Sowjetunion. Diese Unterstützung hatte mit dazu beigetragen, die Apartheid 1994 zu überwinden und Südafrika von diesem düsteren Kapitel der Geschichte zu befreien. Das ist unter anderem einer der Gründe, weshalb bis heute persönliche Verbindungen zur ehemaligen Sowjetunion bestehen. Paradoxerweise nutzen ANC-Mitglieder diese Tatsache, um eine neutrale Haltung zu rechtfertigen, obwohl auch die Ukraine damals Teil der Sowjetunion war. Kritisch zu hinterfragen ist auch, inwieweit Ramaphosa tatsächlich hinter dem Narrativ der NATO als Grund für die militärischen Handlungen Russlands steht oder dies als willkommene Begründung nutzt, die proklamierte Neutralität Südafrikas rechtfertigen zu können.
Eine weitere Verbindung mit Russland besteht durch die BRICS-Mitgliedschaft. Südafrika ist 2010 beigetreten und in diesem Verbund das mit Abstand wirtschaftlich schwächste Mitglied. Innerhalb des BRICS-Verbundes hat Südafrika mit Russland die geringsten wirtschaftlichen Beziehungen im Vergleich zu den anderen Mitgliedern. Politisch sind die Verbindungen jedoch deutlich ausgeprägter. Russland sieht in Südafrika einen Partner, um das Ziel einer multipolaren Weltordnung weiterzuverfolgen.
Allerdings gibt es auch abseits des BRICS-Verbundes russische Projekte, die nicht zu unterschätzen sind. Die Verwirklichung dieser Projekte kann durch eine zu positive ukrainische oder negative russische Haltung in Gefahr geraten. Ein Beispiel hierfür ist der geplante Bau von neuen Atommailern in Südafrika mit russischer Hilfe. Dieser ist zwar momentan unterbrochen, seine Realisierung gilt jedoch weiterhin als wichtiges Ziel für die südafrikanische Regierung und den ANC, auch um die Energieknappheit im Land langfristig bekämpfen zu können. Dieses Projekt ist substanziell für die gesamte Bevölkerung, denn Stromabschaltungen, auch für mehrere Stunden, sind in Südafrika an der Tagesordnung und stellen die Bevölkerung vor massive Herausforderungen. Für Südafrika bleibt die Zusammenarbeit mit und Unterstützung durch Russland damit weiterhin wirtschaftlich essenziell.
Schadensbegrenzung durch die Opposition
Wie das an obiger Stelle erwähnte erste offizielle Statement zeigt, ist allerdings keineswegs davon auszugehen, dass die Haltung der Regierung und des ANC für die gesamte südafrikanische Parteienlandschaft steht. In diesem Land existierenzwei nennenswerte Oppositionsparteien: die Democratic Alliance, welche die mit Abstand größte und bedeutendste darstellt, und die Partei der Economic Freedom Fighters.
Nach John Steenhuisen, Parteivorsitzender der Democratic Alliance, spreche Südafrikas Regierung – so in seiner Rede Anfang Mai 2022 nach der Rückkehr von einem mehrtägigen Besuch in der Ukraine – nur für sich selbst und ihre eigenen finanziellen Interessen und vertrete mit ihrer unmoralischen Unterstützung Russlands auf keinen Fall die Mehrheit der Südafrikaner und Südafrikanerinnen. Des Weiteren fordert er in seiner Rede, deutlich zu benennen, dass dieser Krieg unter keinen Umständen eine militärische Sonderoperation seitens Russlands darstelle. Der Aggressor sei ausschließlich Wladimir Putin. Diese klare, im Widerspruch zur Haltung der Regierung und des African National Congress stehende, öffentliche Stellungnahme und Positionierung der Democratic Alliance erfüllt einen wichtigen Grund: Es gilt zu vermeiden, „dass die internationale Reputation Südafrikas da noch weiteren Schaden nimmt“ (Holger Dix). Nach Einschätzung der Konrad-Adenauer-Stiftung sei es nicht das primäre Ziel der Oppositionspartei, aus dieser Situation politisches Kapital zu schlagen. Ein öffentlicher und starker Gegenpol zur offiziellen Positionierung Südafrikas solle vielmehr der Staatenwelt aufzeigen, dass es im Land auch andere Positionen und Haltungen in dieser Frage gibt als die offizielle. Das hat Steenhuisen auch seinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern in der Ukraine während seiner Reise deutlich gemacht. So werde die Democratic Alliance nichts unversucht lassen, Einfluss auf die Regierung zu nehmen, bis diese den russischen Angriffskrieg verurteilt und Putin auffordert, seine Truppen aus der Ukraine zurückzuziehen. Wenn Südafrikas Präsident Ramaphosa – so Steenhuisen – sich selber einen Überblick über die Lage vor Ort gemacht und die massive Zerstörung in der Ukraine mit eigenen Augen gesehen hätte, gäbe es für ihn nur eine Wahl, nämlich „Russlands Handlungen in der Ukraine zu verurteilen“.
Im Gegensatz zur Democratic Alliance stellen sich die Economic Freedom Fighters auf die Seite Russlands und gehen damit deutlich über die Haltung der Regierung hinaus. Diese klare Positionierung dürfte einerseits zu großen Teilen ein opportunistischer Schachzug gewesen sein, mit dem Ziel, Wählerstimmen zu gewinnen. Sie war andererseits aber auch dem generellen Misstrauen gegenüber dem Westen geschuldet. In öffentlichen Statements der Economic Freedom Fighters findet eine sehr ausgeprägte Rechtfertigung des Krieges statt. Die Partei bezichtigt die Ukraine gar eines „Völkermordes“, welcher in den östlichen Regionen der Ukraine seit 2014 stattfinde. Auch sollen die USA in der Ukraine biologische Waffen herstellen mit dem Ziel, diese gegen die russische Bevölkerung einzusetzen – so die Partei im gleichen Statement auf Twitter am 16. März 2022. Auch wenn sich die zweitgrößte Oppositionspartei in Südafrika lautstark äußert, verfügt sie jedoch nur über einen sehr geringen Einfluss. Im Vergleich zu den beiden größeren Parteien hat sie bei den letzten Wahlen lediglich ein Zehntel der Sitze erreichen können.
Die südafrikanische Bevölkerung als Gegenpol zur Regierung?
Die überaus diversen Positionen der Parteien Südafrikas zum Ukrainekrieg lassen vermuten, dass sich diese Spaltung auch in der südafrikanischen Bevölkerung wiederfindet. Der Krieg in der Ukraine hat, wie in vielen anderen Ländern Afrikas, angesichts von Armut und Ungleichheit große Konsequenzen für die Bevölkerung. Extrem steigende Preise für Grundnahrungsmittel und Treibstoff setzen hierbei einem Großteil der Bevölkerung stark zu. Die deutlich angestiegene Inflation trägt zur Verteuerung zusätzlich bei. Viele Südafrikaner und Südafrikanerinnen, die vorher schon Probleme mit der Grundversorgung hatten, sind hiervon besonders stark betroffen und geraten in Existenznot. Somit ist es nicht verwunderlich, dass viele Südafrikaner und Südafrikanerinnen im Ukrainekrieg eine Ursache für die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen sehen. Überraschend deutlich fällt dabei die Haltung eines Großteils der Bevölkerung aus, der den „neutralen“ Kurs der Regierung in diesem Konflikt nicht unterstützt. Diese ablehnende Haltung lässt sich nicht nur bei Wählerinnen und Wählern der Democratic Alliance, sondern zu großen Teilen sogar bei Wählerinnen und Wählern der Regierungspartei finden. In einer Umfrage der Brenthurst Foundation, welche im September 2022 veröffentlicht wurde, wird dieses Phänomen deutlich: Danach fordern drei Viertel aller Befragten – und sogar drei Viertel der befragten ANC Wählerinnen und Wähler – eine Verurteilung Russlands für den Krieg in der Ukraine. In diesem Zusammenhang geben nach dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos vom April 2022 auch zwei Dritteln der Befragten an, dass Südafrika souveräne Staaten unterstützen muss, wenn diese von anderen Staaten angegriffen werden. Laut einer Umfrage der Open Society Foundation von September 2022 befürwortet auch die Mehrheit der Bevölkerung den vollständigen Rückzug Russlands aus der Ukraine. Dies bekräftigt auch die Aussage der größten Oppositionspartei, der Democratic Alliance, dass viele Südafrikaner und Südafrikanerinnen den Kurs der Regierung nicht unterstützen. Diese Grundstimmung in der Bevölkerung spiegelt sich auch in den südafrikanischen Medien wider. Sie haben im Laufe des Jahres 2022 die Regierung kontinuierlich für diese Haltung kritisiert und eine andere Positionierung eingefordert. Das hat die südafrikanische Regierung jedoch nicht dazu bewegt, gegenüber Russland eine kritischere Haltung einzunehmen – so Holger Dix von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Es wird sich zeigen, ob diese Missachtung der Position der Bevölkerung Folgen für die nächste Wahl haben wird oder die Wähler und Wählerinnen weiterhin für den ANC votieren.
*Der Autor hat den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.