Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt

Folge 1: Aserbaidschan

Florian Aupor *

 © Official Website of the President of Azerbaijan; „16 August 2021, President of Azerbaijan Ilham Aliyev raised the Azerbaijani flag in Kalbajar“, CC BY 4.0

Als sich wenige Tage nach Kriegsbeginn in der Ukraine Hunderte Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner vor der ukrainischen Botschaft in Baku versammeln und ihre Solidarität mit der Ukraine bekunden, wird dies vom Regime gebilligt. Ein außergewöhnlicher Vorgang in einem Land, das sonst keinerlei Protest oder freie Meinungsäußerung duldet. Nicht umsonst zählt die Menschenrechtsorganisation Freedom House Aserbaidschan in ihrem Bericht von 2022 zu den 16 autokratischsten Staaten weltweit.

Wenige Tage später protestieren Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten vor der russischen Botschaft in Baku und fordern ein Ende des russischen Angriffskrieges. Dieser Protest wird schon nach wenigen Minuten von Sicherheitskräften erstickt. Das Signal ist klar: Ein gewisses Maß an Solidarität für die Ukraine wird toleriert, Kritik an der alten Hegemonialmacht, dem Aggressor Russland, ist jedoch strengstens untersagt. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine birgt große Brisanz für Aserbaidschan und betrifft den post-sowjetischen Raum des zerklüfteten Südkaukasus in besonderer Weise. Die Zerrissenheit der Region mit den drei Ländern Georgien, Armenien und Aserbaidschan wird auch bei einem Blick auf ihre geografische Lage deutlich. Im Westen und Osten begrenzt durch das Schwarze und das Kaspische Meer, im Norden durch den großen Kaukasus getrennt von Russland, liegt sie wie eine Pufferzone zwischen den drei regionalen Großmächten Russland, Türkei und Iran, die alle ihren Einfluss in dem Gebiet geltend machen wollen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und einer kurzen Hoffnungswelle der Öffnung und Demokratisierung Anfang der 1990er Jahre wird Aserbaidschan mittlerweile schon seit gut 30 Jahren vom Familien-Clan der Alijews beherrscht. Das Land verfügt über enorme Gas- und Ölreserven im Kaspischen Meer. Ähnlich wie in Russland konnte sich im Zuge der Privatisierungsprozesse eine kleine oligarchische Elite Macht und Reichtum aneignen. 1994 schloss Aserbaidschan einen Jahrhundertvertrag mit einem Konsortium von Ölriesen aus acht Ländern, was seinen Aufstieg zum wirtschaftlich stärksten der drei südkaukasischen Staaten einläutete. Seither konnten Energieträger in Umgehung Russlands über die Route Baku-Tiflis-Ceyhan in die Türkei und weiter in den Westen exportiert werden, was Aserbaidschans Autonomie gegenüber Russland stärkte.

Aus dem Wirtschaftskrieg zwischen dem Westen und Russland kann das autoritäre Aserbaidschan momentan zusätzlichen Profit schlagen und sich noch stärker als strategisch wichtiger Energielieferant für die Europäische Union in Stellung bringen. Bis heute nutzt das Regime um Ilham Alijew die Einnahmen aus dem Verkauf fossiler Energieträger, um seine militärische Stärke auszubauen und einen autoritären Polizeistaat zu etablieren. Zusätzlich könnte Russlands Krieg in der Ukraine das Risiko einer von Aserbaidschan herbeigeführten Eskalation in der armenischen Exklave Bergkarabach dramatisch erhöhen und damit eine weitere humanitäre Katastrophe verursachen. So ist auch für die Bevölkerung der schwelende Konflikt mit Armenien deutlich näher als der Krieg in der Ukraine. 

Machtkalkül und strategische Zurückhaltung

Ein ähnliches Muster wie bei den Protesten zu Beginn des Krieges lässt sich auch in anderen Bereichen wiederfinden. In den als Reaktion auf Russlands Völkerrechtsbruch einberufenen Sondersitzungen der UN-Generalversammlung, die Russlands Krieg gegen die Ukraine verurteilen, bezog Aserbaidschan keine Stellung. Bei keiner Abstimmung der in diesem Rahmen verabschiedeten Resolutionen waren Vertreterinnen oder Vertreter des Landes anwesend und auch sonst gibt es keine Kritik von offizieller Seite am russischen Vorgehen in der Ukraine. Eine Beteiligung an den Sanktionspaketen gegen Russland oder gar Waffenlieferungen an die Ukraine sind undenkbar. Sich dermaßen gegenüber Wladimir Putin zu exponieren, könnte je nach Verlauf der Ereignisse in der Ukraine unkalkulierbare Folgen haben. Allerdings unterstützt Aserbaidschan die Ukraine mit humanitärer Hilfe und die staatliche Energiegesellschaft SOCAR beliefert ukrainische Tankstellen kostenlos mit Kraftstoff für ukrainische Rettungskräfte. Geschickt wird so eine Konfrontation mit Russland vermieden und gleichzeitig eine Agenda verfolgt, die Russlands Schwäche ausnutzt. Schließlich erhöht diese den Aktionsradius im Konflikt mit Armenien und ermöglicht, in das lukrative Geschäft einsteigen, die ausbleibende russische Energie in Europa zu kompensieren. 

Schon kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine war dieses opportunistische Verhalten zu beobachten. Im Januar 2022 unterzeichnen Wolodymyr Selenskyj und Ilham Alijew in Kiew bilaterale Abkommen für eine stärkere Zusammenarbeit und unterstreichen die gegenseitige Anerkennung der territorialen Integrität beider Länder. Nur zwei Tage bevor die ersten Panzer am 24. Februar 2022 in die Ukraine einrollen, ist der Despot wieder unterwegs – dieses Mal, um Aserbaidschans Beziehungen mit Putins Russland zu stärken. Beide Staaten sind trotz vieler Kontroversen eng verflochten. Obwohl die EU der wichtigste Außenhandelspartner Aserbaidschans ist, kommen noch immer die meisten Importe aus Russland. Alijews Besuch in Moskau macht ihn außerdem zum letzten Staatschef, der vor dem russischen Überfall medienwirksam an Putins Seite sitzt. Doch beide eint kaum mehr als ihr tyrannischer Herrscherstil. Die Beziehungen sind aufgrund der konträren Positionen im Bergkarabach-Konflikt seit langem angespannt. In erster Linie ist die Szene Ausdruck einer wohlkalkulierten Gratwanderung Aserbaidschans. Auf der einen Seite profitiert es von einem geschwächten Russland, das an Einfluss in der Region verliert. Auf der anderen Seite möchte es um jeden Preis eine offene Konfrontation mit Russland vermeiden. Die Folge ist eine leise und subtile Unterstützung der Ukraine, während öffentlich Zurückhaltung und Neutralität demonstriert werden. 

Das Regime nutzt die Gunst der Stunde

Bisher spielen die Ereignisse Alijew in die Hände. Die Staaten der EU müssen sich aus den alten Zwängen russischer Energielieferungen befreien und versuchen fieberhaft, Gas und Öl aus neuen Quellen zu beziehen. Verzichten können sie auf die Energie aus Aserbaidschan dabei nicht und Baku weiß das genau. Was gut für Alijew und seine mafiösen Strukturen ist, schadet der zivilgesellschaftlichen Entwicklung dabei umso mehr. Der REPowerEU-Plan zur raschen Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland schweigt zum Thema Menschenrechte, möchte er als Teil der neuen Energieaußenpolitik der EU vorrangig die Versorgungssicherheit gewährleisten. Die Pipelines des südlichen Gaskorridors verbinden seit 2020 Aserbaidschan über Georgien, die Türkei und Griechenland direkt mit Italien. Bis 2027 soll die Liefermenge an aserbaidschanischem Gas in die EU verdoppelt werden, wozu allerdings immense Investitionen in die Pipelineinfrastruktur vonnöten sind. Alijew lässt sich in seiner neuen Rolle als Retter in der Not gerne hofieren. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reist im Juli 2022 gar persönlich nach Baku, um die neue Energiepartnerschaft zu besiegeln – ein PR-Coup für das autoritäre Aserbaidschan, den es genüsslich öffentlich inszeniert. Allem Anschein nach kann sich die EU keine Kritik an der politischen- und Menschenrechtslage in Aserbaidschan leisten – eine überaus komfortable Situation für den Despoten und ein Armutszeugnis für die EU als Wertegemeinschaft. Der Versuch, sich durch den Deal von russischem Gas unabhängig zu machen, könnte sich gar als Nebelkerze entpuppen. Kurz nach dem Besuch der Kommissionspräsidentin schließt Aserbaidschan auch einen neuen Gasliefervertrag mit Russland, so dass Aserbaidschan seine Lieferverpflichtungen an die EU teilweise mit dem Weiterverkauf des importierten russischen Gases bedienen könnte. Ökonomisch eine Win-win-Situation für alle Beteiligten: Russland kann weiterhin das traditionell für den Westen bestimmte Gas fördern und verkaufen, Aserbaidschan kann seine Lieferverträge mit der EU einhalten, die wiederum jeden Kubikmeter Gas aus Aserbaidschan dankend entgegennimmt. Auch wenn die Liefermengen zwischen Russland und Aserbaidschan bisher überschaubar und zeitlich begrenzt sind, besteht durchaus die Möglichkeit einer Ausweitung des Abkommens. Gerade wenn es im Spätjahr für die EU wieder darum geht, die Speicher für die kalte Jahreszeit aufzufüllen.

Neue Machtoptionen bieten sich dem Regime in Baku auch auf anderer Ebene. Durch den Fokus der Weltgemeinschaft auf die Situation in der Ukraine und die dortigen militärischen Misserfolge Russlands fühlt sich Aserbaidschan im Konflikt mit Armenien weiter im Aufwind. Die russische Bindung und Schwächen in der Ukraine könnten jederzeit einen erneuten Krieg um Bergkarabach zur Folge haben, was im September 2022 gerade noch verhindert werden konnte.

Der Konflikt mit Armenien: Russland bleibt auffällig passiv

Mittelpunkt des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan ist die Republik Bergkarabach, welche nach dem Zerfall der UdSSR ebenfalls ihre Unabhängigkeit ausrief. Die von einer großen armenischen Mehrheit bewohnte Exklave, die sich gänzlich auf dem Staatsgebiet Aserbaidschans befindet, bleibt aber bis heute ein De-facto-Staat ohne völkerrechtliche Anerkennung. Immer wieder gibt es gewaltsame Zusammenstöße, und die Spannungen entluden sich in einem ersten Krieg, bei dem die armenische Exklave mit der Hilfe des Mutterlandes siegreich hervorging. Jahrzehnte der Feindseligkeiten und diplomatischen Bemühungen folgten, in denen Aserbaidschan seinen international anerkannten Rechtsanspruch nicht geltend machen konnte. In einem sechswöchigen zweiten Krieg 2020 eroberte Aserbaidschan große Teile der in den 1990er Jahren verlorengegangenen Gebiete zurück. Hierbei zeigte sich die enorme militärische Überlegenheit Aserbaidschans. Neben der eigenen Stärke war der Erfolg auch auf die entschlossene Unterstützung durch die Türkei und auf das zögerliche Handeln der armenischen Schutzmacht Russland zurückzuführen. Jedoch gelang es Moskau, ein Waffenstillstandsabkommen zu vermitteln und durch die Entsendung von etwa 2.000 Friedenstruppen seinen Anspruch als Ordnungsmacht in der Region zu sichern. Doch Russlands Einfluss im Südkaukasus bröckelt.  

Seit dem 12. Dezember 2022 schneidet eine Blockade des Latschin-Korridors etwa 120.000 Menschen in der autonomen armenischen Exklave von nahezu jeder Versorgungsmöglichkeit ab. Laut Aserbaidschan sind Umweltaktivistinnen und -aktivisten für die Sperre der einzigen nennenswerten Verbindungsstraße zwischen Armenien und Bergkarabach verantwortlich. Eine dreiste Lüge, sehen neutrale Beobachterinnen und Beobachter darin doch den Versuch, die Region auszuhungern und die Menschen zu vertreiben. Russland bleibt zum Entsetzen Armeniens dabei passiv, obwohl sich das Ganze auf dem von seinen Friedenstruppen besetzten Gebiet abspielt. Für die Menschen vor Ort wird die Situation von Tag zu Tag bedrohlicher, eine humanitäre Katastrophe droht.

Bereits im September 2022 eskalierte die Situation, als das aserbaidschanische Militär direkt armenisches Territorium angriff; Konsequenzen hatte das fast keine. Die Ereignisse deuten die Abhängigkeit des Südkaukasus von den Entwicklungen seiner alten Hegemonialmacht Russland an, das vermutlich im Kontext seiner Miseren in der Ukraine nicht die Stärke aufbringen kann, die aufgeladene Spannung im Zaum zu halten. Alijew nutzt somit die Gunst der Stunde eines unterlegenen Armeniens, dessen Brüche zu seiner alten Schutzmacht immer deutlicher zutage treten. Der schwindende Einfluss Russlands in der Region wird mehr und mehr von Aserbaidschans Brudervolk, der Türkei, ausbalanciert und schafft dabei eine neue Sicherheitsstruktur in der Region.

Alijew gewinnt, das Land verliert

Die Entwicklungen seit der russischen Invasion in der Ukraine sind für das Regime Alijew in mehrerlei Hinsicht vorteilhaft. Neben Russland ist auch die Weltöffentlichkeit stark auf die Entwicklungen in der Ukraine fokussiert und dort gebunden. Dies eröffnet neue Handlungsoptionen um Bergkarabach, dessen Verlust an Armenien sich bei vielen Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschanern als nationales Trauma und große Ungerechtigkeit eingebrannt hat. Das Vorgehen im Konflikt mit Armenien scheint die Unterstützung der Mehrheit des Landes zu vereinen, was Alijew innenpolitisch nutzt. Allerdings bleibt es schwer, die Situation in Aserbaidschan zu beurteilen. NGOs und andere zivilgesellschaftliche Akteure dürfen schon länger keine Finanzierung mehr aus dem Ausland erhalten. Keine der deutschen politischen Stiftungen betreibt noch ein Büro vor Ort. Es gibt keine Kontroversen in den öffentlich einsehbaren Diskursen und keine Meinungsforschung. Einstellungen zum Krieg in der Ukraine bleiben in einer Blackbox gefangen und äußern sich höchsten in einem vom Regime bestimmten Rahmen. Dieses sitzt fest im Sattel und kann im Schatten der Zerwürfnisse zwischen Russland und dem Westen die eigene Machtposition zementieren. In der Zukunft wird es dafür auch die zusätzlichen Milliarden aus der Energiepartnerschaft mit der EU verwenden können. Aus Angst vor Energieengpässen ist diese in einer denkbar schlechten Verhandlungsposition und kann die Ausweitung der Handelsbeziehungen mit Aserbaidschan nicht dazu nutzen, einen Wandel im Land anzustoßen. Alijew und sein Machtzirkel jedenfalls sind nicht an einem Ende des Krieges in der Ukraine interessiert, stärkt dieser doch die eigene Position und verringert die Einflussnahme von außen. 

*Der Autor hat den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.