Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt

Folge 3: Saudi-Arabien

Amr Sakr und Lea Laib*


© Official Website of the President of Ukraine, www.president.gov.ua, 26. Februar 2023, Die saudische Delegation in der Ukraine kurz nach dem Jahrestag des russischen Angriffs, CC BY-NC-ND 4.0

We are a country that has good relations with both sides and we are prepared to act as a bridge or a facilitator.

Adel al-Jubeir, saudischer Staatsminister für auswärtige Angelegenheiten

Am 1. März 2022, dem siebten Tag des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, erklärte das saudische Kabinett in einer Stellungnahme seine Unterstützung für internationale Bemühungen, die Situation in der Ukraine durch Dialog und Diplomatie zu deeskalieren und Sicherheit und Stabilität wiederherzustellen.

Mohammed bin Salman, der Kronprinz und Premierminister Saudi-Arabiens, telefonierte eine Woche nach Russlands Invasion in der Ukraine sowohl mit Wladimir Putin als auch mit Wolodymyr Selenskyj. Das Königreich bot an, als neutraler Akteur zwischen den Parteien zu vermitteln. Der Wunsch nach einer zeitnahen diplomatischen Lösung des Krieges wurde vom saudischen Kabinett in einer Stellungnahme zu Beginn des Jahres 2023 wiederholt. Grundsätzlich ist Saudi-Arabien gegen den Krieg und schaut mit Besorgnis auf die Situation, aber die Regierung lehnt es ab, sich auf eine Seite zu stellen. Stattdessen betont das Königreich die verheerenden Folgen des Krieges für die ganze Welt.

Saudischer Umgang mit dem Krieg

Der Spagat zwischen Russland und der Ukraine spiegelt sich auch im Abstimmungsverhalten Saudi-Arabiens auf der internationalen Bühne wider. Auf der einen Seite stimmte das Königreich bei den UN-Resolutionen A/RES/ES-11/1 und A/RES/ES-11/2 im März 2022 für eine Verurteilung der militärischen Aggressionen gegen die Ukraine und der daraus resultierenden humanitären Krise. In der gemeinsamen Abschlusserklärung des Gipfels der G20-Staaten im November 2022 trug Saudi-Arabien die generelle Verurteilung des Krieges mit. Und auch bei der kürzlich verabschiedeten UN-Resolution zum ersten Jahrestag des Angriffskrieges schloss sich Saudi-Arabien der Forderung nach einem Rückzug Russlands vom ukrainischen Staatsgebiet an. Auf der anderen Seite vermeidet das Königreich bei den Begründungen zu den jeweiligen Abstimmungen die Nennung Russlands als Aggressor. Die Erklärungen berufen sich vorrangig auf das Bekenntnis Saudi-Arabiens zu den Grundprinzipien der UN-Charta und des Völkerrechts, insbesondere der Souveränität von Staaten, sowie auf das Engagement zur Lösung von Konflikten mit friedlichen Mitteln. Bei der Resolution zum Ausschluss Russlands aus dem Menschenrechtsrat Anfang April 2022 enthielt sich das Land. Zudem schließt sich die Regierung, trotz der Aufforderung westlicher Staaten, keinen Sanktionen gegen Russland an. 

Vielmehr herrschten bereits zu Beginn des Krieges Irritationen auf saudischer Seite angesichts der Erwartung westlicher Staaten, sich gegen Russland zu stellen. Deutlich wurde dies bei der Entscheidung der OPEC+ im September 2022, trotz der Knappheit in Europa die Ölmengen zu drosseln. Sowohl Russland als auch Saudi-Arabien gehören diesem Zusammenschluss erdölexportierender Nationen an, die den weltweiten Ölmarkt steuern. Trotz politischen Drucks seitens der USA, aus der OPEC+ auszusteigen und den Energieexport zu erhöhen, hielt das Königreich an der Kürzung fest. Sowohl in Washington als auch in Moskau wurde die Standhaftigkeit gegenüber den USA als subtile Unterstützung für Russland gewertet, welches sich gegen die Hegemonie des Westens stellt. Ein Narrativ, das in Russland schon länger geschürt wird. Saudische Vertreter und Vertreterinnen verweisen hingegen auf rein wirtschaftliche Gründe im Sinne der Stabilität des Weltmarktes. Sie lehnen die „Schwarz-Weiß-Darstellung“ (Giorgio Cafiero) des Westens nach dem Motto ‚Jeder Staat, der Russland nicht verurteilt, steht auf Seiten der russischen Föderation‘ entschieden ab. 

Die Weigerung Saudi-Arabiens, in dem Konflikt offen Partei zu ergreifen, führte im September 2022 zu einer Schlüsselrolle Mohammed bin Salmans bei einem Austausch von russischen und ukrainischen Kriegsgefangenen. Darunter waren auch zehn ausländische Staatsbürger, die er öffentlichkeitswirksam in Sicherheit brachte. Spekulationen zufolge will das Königreich sein internationales Ansehen stärken und zugleich sein Engagement als möglicher Mediator signalisieren. Es dient auch der Rechtfertigung für Saudi-Arabiens neutrale Haltung gegenüber Russland. Diese aktivere Position ist zu einem Zeitpunkt zu beobachten, als immer deutlicher wird, dass Russland keinen schnellen Sieg davontragen wird und sich die globalen Auswirkungen zunehmend verstärken. 

In diesem Zusammenhang ist auch der jüngste Besuch des saudischen Außenministers in der Ukraine Ende Februar 2023 zu verstehen. Es ist der erste hochrangige Besuch aus dem Königreich seit 30 Jahren. Dieser hat damit eine hohe symbolische Bedeutung. Der Besuch diente der Konsolidierung eines Hilfspaketes über 400 Millionen US-Dollar, welches Mohammed bin Salman bereits im Oktober 2022 zusagte. Dabei sind 100 Millionen US-Dollar für humanitäre Hilfen und 300 Millionen US-Dollar in Form von saudischen Ölprodukten vorgesehen. Militärische Zuwendungen enthält das Hilfspakte dagegen nicht. Bilaterale Kooperationen sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland stellen für Saudi-Arabien keinen Wiederspruch dar, sondern seien Ausdruck von Neutralität. Dabei wiederholte der Außenminister die Notwendigkeit einer diplomatischen Lösung für den Krieg und die Bereitschaft Saudi-Arabiens, durch seine unparteiische Haltung dazu beizutragen.

Mit dieser unverbindlichen Positionierung folgt das Königreich einer sogenannten Hedging-Strategie. In der internationalen Politik bezeichnet das ein absicherungsorientiertes Verhalten in Situationen hoher Unsicherheit. Dabei vermeidet ein Staat, zwischen konkurrierenden Mächten Partei zu ergreifen, um die eigenen Risiken zu minimieren und sich politische Optionen offen zu halten. Das Königreich taktiert im Kontext des Krieges in der Ukraine zwischen wirtschaftlichem Interesse und strategischem Schutz. Die bilateralen Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und der Ukraine begrenzen sich auf überschaubare wirtschaftliche Verbindungen und spielen bei der Positionierung des Königreichs kaum eine Rolle. Saudi-Arabiens Kurs wird vielmehr von den ökonomischen und sicherheitspolitischen Beziehungen zu den USA und Russland geleitet. 

Sicherheitsgarant USA?

Bereits seit der Obama-Administration lassen sich Verschiebungen in den historisch engen sicherheitspolitischen und ökonomischen Beziehungen zwischen den USA und Saudi-Arabien beobachten. Ihren diplomatischen Tiefpunkt hatten die Beziehungen, als Mohammed bin Salman für den brutalen Mord am saudischen Journalisten Jamal Kashoggi 2018 verantwortlich gemacht und geächtet wurde. Joe Biden bezeichnete Saudi-Arabien noch in seinem Wahlkampf als Pariastaat. Lange Zeit beruhte die Kooperation auf dem Tausch von US-amerikanischen Sicherheitsgarantien gegen eine stabile Ölversorgung. Bis dato sind die USA der wichtigste Sicherheitspartner Saudi-Arabiens. So schützt das amerikanische Militär das Königreich zum Beispiel vor Angriffen der Huthi-Rebellen aus dem Nachbarland Jemen. Die USA ziehen sich jedoch zunehmend aus der Region zurück. Dies veranlasst Saudi-Arabien, seine Bemühungen um eine Diversifizierung der Allianzen zu beschleunigen. Im Rahmen der 2016 angekündigten Vision 2030, ein strategischer Reformplan Mohammed bin Salmans, plant Saudi-Arabien, seine wirtschaftlichen sowie politischen Partnerschaften auszuweiten. Neben innenpolitischen Projekten zum Ausbau der lokalen saudischen Dienstleistungssektoren dient der Reformplan vor allem der Transformation und Stärkung der saudischen ökonomischen und geopolitischen Position. Diese Diversifizierung ist aus Sicht Saudi-Arabiens notwendig, bevor sich die USA gänzlich von ihnen abwenden. Dabei intensiviert Saudi-Arabien vor allem mit China seine strategische Partnerschaft. So hat die Vertiefung der Zusammenarbeit dazu geführt, dass China die USA als Haupthandelspartner des Königreichs inzwischen abgelöst hat. Aber auch die Beziehungen zu Russland baut Saudi-Arabien auf der Suche nach alternativen Partnern zunehmend aus.

Ausbau der Beziehung mit Russland

Mit Russland pflegt Saudi-Arabien unter der Ägide der OPEC+ schon länger pragmatische Beziehungen. Während es immer wieder Spannungen zwischen dem Königreich und Russland aufgrund der Konkurrenz am Ölmarkt oder unterschiedlicher Positionen im Hinblick auf lokale Konflikte in Syrien, Libyen oder dem Jemen gab, haben sich die beiden Länder schon vor der russischen Invasion in der Ukraine langsam angenähert. Nach dem Mord an dem Journalisten Kashoggi präsentierte sich Putin trotz internationaler Ächtung mit Mohammed bin Salman – einer der ersten Schritte zur Rehabilitation des Kronprinzen auf der Weltbühne. 2021 erst unterzeichnete Saudi-Arabien ein Abkommen über die militärische Zusammenarbeit mit Moskau sowie mehrere Rüstungskaufverträge. Am 28. Februar 2022 unterstützte Russland ein Waffenembargo gegen die Huthi-Rebellen im Jemen und solidarisierte sich mit dem Königreich gegen die Drohnenangriffe der Huthis. Beide Staatsführer, Putin und Mohammed bin Salman, sprechen von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung. Der Krieg in der Ukraine hat dieser Annäherung keine Steine in den Weg gelegt. Die beiden Staaten vertiefen ihre ökonomische Zusammenarbeit kontinuierlich. So hat Saudi-Arabiens staatliche Kingdom Holding Company 500 Millionen US-Dollar in russische Ölkonzerne wie Gazprom und Rosneft investiert, als der Westen diese schon sanktionierte. 

Neben dem Streben nach ökonomischer Unabhängigkeit ist Saudi-Arabien jedoch weiterhin auf die amerikanische militärische Unterstützung angewiesen. Die unerwarteten Schwierigkeiten der russischen Armee bei einer schnellen Invasion in der Ukraine sind keine Werbung für russische Militärtechnologie. Es ist daher in saudischem Interesse, weder die Beziehungen zu ihrem Sicherheitspartner USA noch zu ihrem Hauptwirtschaftspartner China oder ihrem Hauptpartner in der OPEC+ Russland aufs Spiel zu setzen. 

„Nicht unser Krieg“ – der saudische Diskurs

Aus saudischer Perspektive ist der Krieg zuallererst eine europäische Krise. Manche Analysen sprechen darum auch von der Rolle des „Zaungasts“ (Randa Slim). Bevölkerungsumfragen bestätigen, dass der Krieg innenpolitisch kein dominierendes Thema ist. Nach Umfragen des Meinungsforschungsinstituts IPSOS haben zwei Drittel der Befragten keine eindeutige Haltung zum Ukrainekrieg und finden, „wir sollten uns nicht einmischen“. Zwar missbilligt die Mehrheit der saudischen Bevölkerung die Militäraktionen Russlands und sorgt sich um die negativen Auswirkungen, die dieser Krieg auf die Golfregion hat, je länger er andauert. Dennoch sieht eine knappe Mehrheit von 53 Prozent gute Beziehungen zu Russland als wichtig an (demgegenüber halten nur 41 Prozent die saudisch-amerikanischen Beziehungen für wichtig). In diesem Kontext befürwortet auch die Mehrheit der Befragten die Diversifizierungsstrategie Vision 2030ihrer Regierung. Einzelne saudische Stimmen in der Bevölkerung positionieren sich im Hinblick auf den Krieg klar pro-ukrainisch. Dies sind tendenziell diejenigen, die an amerikanischen oder europäischen Universitäten studieren oder studiert haben. Die Umfragen legen jedoch nahe, dass man kritische Stimmen in der saudischen Zivilbevölkerung lange sucht und die allgemeine Meinung weitestgehend die Sichtweise der Regierung widerspiegelt.

Es gibt verschiedene Faktoren, welche die eher reservierte Position der saudischen Gesellschaft erklären. Wesentlich trägt die Rolle westlicher Akteure in der arabischen Region zur ablehnenden Haltung der saudischen Bevölkerung gegenüber Europa und den USA bei. Ihre Politik in der arabischen Region wird oft als Heuchelei empfunden; es herrscht die Auffassung, dass westliche Staaten nur ihre eigenen Interessen durchsetzen. Die US-Invasion des Irak, die Unterstützung des Westens für die israelische Besetzung Palästinas sowie die Reaktionen auf den Arabischen Frühling sind Beispiele für die vermeintliche westliche Doppelmoral. Dabei wird selten zwischen amerikanischen und europäischen Handlungen differenziert, sondern ‚der Westen‘ als eine Einheit wahrgenommen. Die Fragen, die sich im gesamten arabischen Diskurs stellen, sind: Warum sollten wir den Westen unterstützen, wenn er uns nicht unterstützt? Warum sollten wir den Krieg in Europa als unseren Krieg betrachten, wenn es nähere Kriege gibt, über die niemand spricht? Dieser „Anspruch des Westens, dass ein Krieg in Europa etwas Globales ist und andere nicht” (Dawud Ansar) trägt zu einer anti-westlichen Stimmung bei. Im arabischen Diskurs herrscht auch die Auffassung vor, wonach der Krieg in der Verantwortung des Westens liege und die Ukraine zwischen die Fronten geraten sei. So gibt es ein Verständnis für die Perspektive, Russland sei in den Krieg gezwungen worden, da die NATO seine Grenzen bedrohe. Die Einstellung gegenüber Russland lässt sich teilweise auch auf eine Sympathie mit Putin zurückführen. Er wird als charismatischer, starker Staatsführer und Nationalheld Russlands angesehen, weil er gegen die westliche Hegemonie antritt. 

Auswirkungen des Krieges – Einfluss auf lokale und globale Interessen

Ein Jahr nach Beginn des russischen Krieges in der Ukraine verzeichnet das Königreich ein beeindruckendes Wohlstandswachstum. Wirtschaftlich bescheren die gestiegenen Ölpreise dem Königreich hohe Einnahmen. Mit diesen können die inländischen Megaprojekte der Vision 2030 finanziert werden. So soll im Projekt NEOM, was übersetzt „neue Zukunft“ bedeutet, zum Beispiel eine moderne und nachhaltige Stadt für Millionen von Einwohnern und Einwohnerinnen errichtet werden. Dabei kooperiert Saudi-Arabien auch mit Partnern in der Region, im Fall von NEOM mit Jordanien und Ägypten. Auf lange Sicht stärkt die Vision 2030 somit auch Saudi-Arabiens regionale Autorität und Machtposition. 

Die gestiegene Abhängigkeit westlicher Staaten von saudischem Öl verringert außerdem den Druck auf Saudi-Arabien, ihre Menschenrechtslage zu ändern. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, wie der letzte Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Saudi-Arabien im September 2022 zeigt. Das deutsche Waffenembargo, welches seit 2018 in Kraft war, wurde kurze Zeit später aufgehoben und Waffenexport-Deals mit Saudi-Arabien im Austausch gegen saudisches Öl abgeschlossen.

Zudem bietet der Krieg Saudi-Arabien auf internationaler Ebene die Gelegenheit, ihren neuen geopolitischen Standpunkt gegenüber den USA deutlich zu machen. Beobachter und Beobachterinnen sprechen davon, dass Saudi-Arabiens Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine weniger von einer Parteiergreifung für Russland zeugen als vielmehr von einer Distanzierung von den USA. Während das Schicksal der Ukraine für Saudi-Arabien zweitrangig ist, kann sich das Königreich aufgrund des Konfliktes international neu positionieren – sei es durch Vermittlungsangebote oder das beständige Vertiefen der Beziehungen zu nicht-westlichen Staaten. Die Regierung Saudi-Arabiens nutzt diesen Krieg als Chance, ernst genommen zu werden und sich als autonomer globaler Akteur aufzustellen.

Allerdings hat Saudi-Arabien kein Interesse an einem länger anhaltenden Krieg in Europa. Die Auswirkungen des Krieges reichen bis in den Nahen Osten und betreffen die schwächsten Länder der Region wie Ägypten und Libanon in Form von Energie- und Lebensmittelsicherheitskrisen. Dieser destabilisierende Effekt nährt die Sorge vor einer neuen Welle sozialer und politischer Unruhen in der Region. Überdies werden die angestrebte Diversifizierung und Unabhängigkeit vor allem von einer Außenpolitik getragen, die multipolare Beziehungen pflegen möchte. Insofern ist es der saudischen Außenpolitik wichtig, keinen ihrer Wirtschafts- oder Sicherheitspartner zu verprellen und die Regierung vermeidet so lange wie möglich, Stellung zu beziehen. Die saudische Botschafterin in den USA, Prinzessin Reema bint Bandar Al Saud, spricht von einer “Politik der Zusammenarbeit mit allen Parteien”. 

*Die Autoren haben den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.