Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt

Folge 4: Algerien

Anna Boeckh*

©Wikimedia, aka4ajax, 2. Mai 2014, Bohrturm im Ölfeld El Merk, CC BY 3.0

Unsere Politik ist blockfrei und wir werden sie nicht aufgeben. […] Russland und die Vereinigten Staaten sind unsere Freunde.

Präsident Algeriens, Abdelmadjid Tebboune, bei seinem Besuch in der Türkei im Mai 2022.

Das Paradigma der Blockfreiheit ist tief im Selbstverständnis des unabhängigen Algeriens verankert. Bedingt durch Algeriens koloniales Trauma ist es für das Land in erster Linie zentral, internationale Souveränität zu bewahren und nicht zwischen weltpolitische Fronten zu geraten.

Algerien möchte daher auch im Ukrainekrieg neutral bleiben und bezieht nur selten öffentlich Stellung. In der Kontaktgruppe der Arabischen Liga zum Krieg in der Ukraine betont Algeriens Regierung den Wunsch nach einer diplomatischen Lösung. Bei den Abstimmungen zu den UN-Resolutionen gegen Russland enthielt sich Algerien größtenteils. Lediglich Anfang April 2022, als es um den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat geht, ergreift Algerien Partei und stimmt gegen die Resolution. Der Vertreter Algeriens, Mohamed Ennadir Larbaoui, wirft den Vereinten Nationen in diesem Kontext die Vorverurteilung Russlands vor und ruft zu Objektivität und Unparteilichkeit auf. Nach Einschätzung von Friederike Stolleis, Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Algerien, unterstützt die algerische Bevölkerung grundsätzlich den Kurs der sonst stark in der Kritik stehenden Regierung in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Die Mehrheit wünscht sich keine Positionierung oder Einmischung der Regierung in den Krieg. Die Bevölkerung steht zwar aus historischen Gründen dem Westen eher skeptisch und Russland großteils positiv gegenüber, der Krieg in der Ukraine ist allerdings allein schon geografisch sehr weit entfernt und spielt auch im öffentlichen Diskurs keine große Rolle. Selbst oppositionelle Gruppen und Parteien äußern sich nicht zum Krieg. Konflikte wie in der Westsahara oder in Libyen betreffen Algerien viel unmittelbarer; und auch innenpolitische Spannungen durch soziale Missstände und das autoritäre Vorgehen des Regimes lassen wenig Raum für eine Auseinandersetzung mit Konflikten in Europa.

Rezeption des Krieges – Der russische Freund kämpft gegen den Westen

Trotz teilweise großer Differenzen beispielsweise in Bezug auf den Nahostkonflikt unterhalten Algerien und die Ukraine diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen. Vereinzelt kommt es zu bilateralen Treffen und verhaltenen Freundschaftsbekundungen, gleichzeitig wird aber auch Kritik an der Ukraine geübt. Als beispielsweise zu Beginn des Krieges ein Post der ukrainischen Botschaft in Algier dazu aufrief, sich der Ukraine im Kampf gegen Russland anzuschließen, sorgte dieser in der Bevölkerung, den Medien sowie der Regierung für Empörung. So stehe der Aufruf im Widerspruch zum Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen und sei damit illegal.

Die Beziehung zur Ukraine scheint allerdings in der Beurteilung des Krieges eher zweitrangig zu sein; der Krieg in der Ukraine wird vielmehr als Krieg Russlands gegen den Westen verstanden. Grundsätzlich steht Algerien Russland näher als dem Westen. Bedingt durch die algerische Kolonialgeschichte wird der Westen mit einer imperialen Bedrohung und Russland mit der Befreiung und dem gemeinsamen sozialistischen Erbe assoziiert. Algeriens diplomatische Beziehungen zu Russland wurden in den letzten Jahren noch vertieft. Erst im vergangenen Jahr erneuerten und erweiterten beide Staaten ihre Erklärung über strategische Zusammenarbeit aus dem Jahr 2001. Auch wirtschaftlich wollen Algerien und Russland zukünftig enger zusammenarbeiten: Das langfristige Ziel ist es, Algerien an die BRICS-Staaten anzugliedern. Die enge Zusammenarbeit in Bezug auf Einreisebedingungen, Sprachaustausch und Studienstipendien führt zudem zu einer positiven Wahrnehmung Russlands in der Zivilbevölkerung. 

Demgegenüber ist die Beziehung zum Westen ambivalent. Die mangelhafte Aufarbeitung kolonialer Verbrechen und die Positionierung des Westens zu Konflikten wie in der Westsahara, Palästina oder dem Irak belasten das diplomatische Verhältnis zu Frankreich, den USA und anderen NATO-Staaten. Wirtschaftlich ist Algerien eng mit europäischen Staaten verbunden, hat aber in den letzten Jahren begonnen, seine Importquellen zu diversifizieren und sich aus der Abhängigkeit vom Westen weiter zu lösen. Zudem trüben restriktive Einreisebedingungen sowie Rassismus und Islamophobie in der westlichen Diaspora die Perspektive der Zivilbevölkerung auf den Westen.

Diese Haltung spiegelt sich auch in der Rezeption des Ukrainekrieges wider. Die russische Perspektive auf den Krieg ist in Algerien sehr präsent. Das Narrativ von dem ukrainischen Präsidenten und der NATO als Provokateure und Aggressoren ist medial weit verbreitet. Die Verurteilung der russischen Invasion bleibt weitestgehend aus. Kritik wird vor allem am Umgang des Westens mit dem Krieg geübt. Algerien wirft dem Westen Doppelstandards und Heuchelei in Bezug auf die Verurteilung von imperialen Bestrebungen, die Positionierung in unterschiedlichen Konflikten und den Umgang mit Geflüchteten vor. Zudem steht die westliche Sanktionspolitik in der Kritik einseitig zu sein und vor allem ärmere Weltregionen zu belasten. Das Agieren Russlands im Krieg wird dagegen kaum öffentlich kritisiert. Vielmehr werden sogar einzelne Aspekte, wie beispielsweise erleichterte Einreisebedingungen nach Russland, positiv hervorgehoben.

Wirtschaftliche Interessen – Profite und Abhängigkeiten

Algerien hat allerdings die Möglichkeit, von der europäischen Energiekrise zu profitieren. Durch den Boykott von russischem Gas werden alternative Energiequellen, darunter Algeriens Erdgasvorkommen, zunehmend relevant für Europa. Bereits wenige Tage nach Ausbruch des Krieges sicherte das staatliche Energieunternehmen Sonatratch Europa seine Unterstützung zu. Entsprechend wurden daraufhin Gaslieferungen an verschiedene europäische Staaten erhöht. Der Nachrichtenorganisation Middle East Eye zufolge stiegen die Einnahmen des algerischen Öl- und Gassektors dadurch um mehr als 70 Prozent. Der Autor Andrew G. Farrand macht deutlich, dass diese Entwicklung der massiv in der Kritik stehenden algerischen Regierung sehr zugute kommt. Der wirtschaftliche Aufschwung durch den Ausbau des Exportsektors ermöglicht es der Regierung, den Unmut in der algerischen Bevölkerung zu besänftigen und sich sozialen Frieden zu erkaufen. Zudem trägt die Abhängigkeit Europas von algerischem Gas mit dazu bei, die Kritik an der Menschenrechtslage in Algerien zurückzuhalten. Damit schwindet auch die Hoffnung der Opposition auf einen tatsächlichen Wandel, auf die Renaissance einer breiten Volksbewegung. Die europäische Abhängigkeit erhöht außerdem Algeriens internationale Stellung. Algerien nutzt seinen neu gewonnenen Einfluss, um eigene Interessen in Bezug auf die Westsahara-Frage durchzusetzen. Es unterstützt die Unabhängigkeitsbestrebungen der Westsahara gegenüber der marokkanischen Regierung, die das Territorium als eigenes Staatsgebiet beansprucht. Nun droht Algeriens Regierung, Verträge über Gaslieferungen zu kippen, sollten sich die entsprechenden Staaten Marokko in der Westsahara-Frage annähern. Im Juni setzte die algerische Regierung aus diesem Grund den Freundschaftsvertrag mit Spanien aus und sendete damit ein klares Signal an andere europäische Staaten.

Sicherheitspolitisch sitzt Algerien zwischen den Stühlen: Der Verteidigungsapparat ist, Analysen des algerischen Journalisten Akram Kharief zufolge, maßgeblich von Lieferungen sowohl aus Russland als auch aus der Ukraine und aus NATO-Staaten abhängig. Russland ist gegenwärtig der größte und wichtigste Waffenlieferant Algeriens. Sensiblere Technologien wie beispielsweise Sichtgeräte oder Teile der IT sind über Russland nicht zugänglich. Algerien bezieht die Lieferung und Instandhaltung dieser Ausrüstung daher aus NATO-Staaten. Eine Analyse in Middle East Eye macht deutlich, dass der Ukrainekrieg wenig an dieser Konstellation ändert. Algerien kann durch den wirtschaftlichen Aufschwung mehr in den eigenen Verteidigungsapparat investieren. Russlands Kapazitäten in Bezug auf Waffenlieferungen und Instandhaltung sind durch den Krieg begrenzt. Algerien versucht daher, seine Waffenquellen weiter zu diversifizieren und greift auf Lieferungen aus NATO-Staaten wie der Türkei und Deutschland zurück. Trotzdem bleibt Russland für Algerien der wichtigste Waffenlieferant, da die militärische Partnerschaft zwischen den beiden Staaten sehr günstige Lizenzvereinbarungen in Bezug auf den Einsatz der gelieferten Waffen vorsieht. Algerien kann sich im Kontext der zunehmenden Spannungen mit Marokko keine Schwächung seines Verteilungsapparates leisten und ist daher auf eine gute Beziehung zu Russland und zum Westen angewiesen.

Die langjährige militärische Partnerschaft mit Russland besteht neben Waffenlieferungen auch in der Kooperation zwischen der russischen und algerischen Armee. Auftakt war dabei eine Militärübung beider Streitkräfte, die im Oktober 2021 im Nordkaukasus durchgeführt wurde. Im November 2022 sollte schließlich die wohl größte gemeinsame Militärübung unmittelbar an der marokkanischen Grenze abgehalten werden. Diese wurde kurzfristig und ohne offizielle Begründung abgesagt. Der Journalist Akram Kharief spekuliert, dass die Absage möglicherweise daher rührt, dass Russland durch den Krieg in der Ukraine keine freien Kapazitäten mehr für eine solche Militärübung habe. Gesicherte Informationen gibt es hierzu nicht.

Wie lange kann Algerien seinen neutralen Standpunkt halten?

Algeriens formelle Neutralität im Ukrainekrieg ist nicht nur historisch begründet, sondern für das autoritäre Regime durchaus auch wirtschaftlich und geostrategisch profitabel. Doch wird Algerien seine blockfreie Position mit zunehmender Dauer und Brutalität des Krieges durchhalten können?

Russlands Invasion der Ukraine nicht zu verurteilen müsste eigentlich in einem eklatanten Widerspruch zu Algeriens sonst stark souveränistischem Ideal stehen. In vielen Konflikten tritt Algerien tatsächlich für Länder ein, deren Souveränitätsanspruch von anderen Staaten infrage gestellt wird. Dies gilt aber nicht in jedem Fall. So erkennt Algerien beispielsweise nicht die Souveränität des Kosovo an. Es scheint in diesem Kontext auch um historisch bedingte anti-westliche beziehungsweise anti-imperialistische Impulse zu gehen. In Bezug auf den Krieg in der Ukraine richtet sich die Imperialismuskritik allerdings nicht gegen Russland, sondern gegen die NATO-Osterweiterung. 

Außerdem ist Algeriens gegenwärtige neutrale Haltung angreifbarer als zur Zeit des Kalten Krieges, da das Land heute außenpolitisch vor andere Hürden gestellt ist. Algerien ist auf gute Beziehungen zu Russland wie zum Westen angewiesen. Die Beziehung zu Russland scheint sich durch die Zurückhaltung Algeriens nicht zu verschlechtern. Putin betont wiederholt, dass er Verständnis für Algeriens Position habe und Algerien als treuen Partner wahrnehme. Einige westliche Staaten hingegen üben Kritik an der Nähe zu Russland und fordern Sanktionen gegen Algerien. Die Abhängigkeit europäischer Staaten von algerischem Gas macht Algerien momentan wenig angreifbar für derartige Vorstöße. Die Gasreserven Algeriens werden allerdings längerfristig nicht ausreichen, um hohe Gasexporte nach Europa aufrechterhalten zu können. Dann wird sich zeigen, ob Algerien möglicherweise doch von seiner neutralen Position abrücken muss. 

*Die Autorin hat den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.