Special Issue: Der Krieg in der Ukraine – Positionen und Reaktionen jenseits der westlichen Welt
Folge 2: Israel
Jan Schubel*
In seiner ersten öffentlichen Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 sprach der israelische Premierminister Naftali Bennett von „schweren, tragischen Zeiten“. Er vermied es jedoch, den russischen Aggressor direkt zu adressieren oder zu verurteilen.
Zur Generalversammlung der Vereinten Nationen wurde lediglich ein Stellvertreter entsandt, um sich der Resolution zur Verurteilung der Invasion kurz nach deren Beginn anzuschließen. Staatliche Stellen der Ukraine, der USA und der EU reagierten irritiert ob der verhaltenen Reaktion Israels zum Kriegsbeginn. In den folgenden Monaten wurde der israelischen Regierung aufgrund ausbleibender Waffenlieferungen an die Ukraine Neutralität und ein Aussitzen des Konfliktes vorgeworfen.
Israels Außenpolitik verstehen
Um Israels Position im russisch-ukrainischen Krieg einzuordnen, ist es elementar, einen Blick auf die Geschichte Israels zu werfen. Seit seiner Gründung im Jahr 1948 befindet sich Israel in einer Vielzahl von bewaffneten Konflikten mit seinen Nachbarstaaten, von denen einige das Existenzrecht Israels bis heute nicht anerkennen. Friedensabkommen schloss Israel lediglich mit Ägypten (1979) und Jordanien (1994). Mit anderen Staaten der islamischen Welt – wie Syrien, Libanon, den autonomen palästinensischen Gebieten oder dem Iran – befindet sich Israel nach wie vor in bewaffneten Konflikten. Insbesondere Terrorgruppen wie die Hamas und die Hisbollah führen permanent militärische Aktionen und Terroranschläge gegen Israel durch. Dementsprechend ist der Einfluss des israelischen Militärs auf die Politik groß und die Sicherung des Überlebens Israels handlungsleitende Maxime der Außenpolitik. Grundsätzlich priorisiert das Sicherheitsestablishment Israels sicherheitspolitische Interessen des Landes über moralische Standpunkte oder westliche Werte. Israels einflussreichster Gegner im Nahen und Mittlere Osten ist der Iran. Das theokratische Regime des Iran sieht Israel als Erzfeind an und unterstützt Gruppierungen, die im aktiven Kampf mit Israel stehen, beispielsweise die Hisbollah. Außerdem arbeitet der Iran seit Jahren an der Entwicklung von Atomwaffen, was Israel als eine existenzielle Gefahr wahrnimmt. In den Syrienkrieg greift der Iran mithilfe schiitischer Milizen ein, um seinen Einfluss auszuweiten. Für Israel stellt das iranische Engagement in seiner unmittelbaren Nachbarschaft eine Bedrohung dar. Daher versucht Israel die iranischen Bestrebungen, in Syrien Fuß zu fassen, mit gezielten militärischen Schlägen zu unterbinden. Seit dem Eintritt Russlands 2015 in den Syrienkrieg konnte Israel seine Militärschläge gegen iranische Stellungen nicht mehr ohne Weiteres durchführen. Aufgrund der russischen Lufthoheit über Syrien ist eine Kooperation mit Russland unerlässlich geworden. Um Gefahren für die eigenen Luftstreitkräfte zu minimieren, werden Luftschläge gegen iranische Stellungen oftmals an russische Stellen kommuniziert. Da die risikoarme Bekämpfung des Iran in Syrien für Israel sicherheitspolitische Priorität hat, wird den funktionierenden Beziehungen zu Russland eine große Bedeutung beigemessen. Außerdem existieren viele Parallelen in der außenpolitischen Praxis Russlands und Israels. Beide Staaten setzen sich regelmäßig über UN-Resolutionen hinweg und missachten die Souveränität anderer Länder, indem sie fremdes Staatsgebiet besetzen und militärische Aktionen außerhalb ihrer Grenzen durchführen. Sie legitimieren ihre Politik mit dem Vorwand der Selbstverteidigung. Obwohl der Westen die russische Außenpolitik anders bewertet und einordnet, sind Parallelen nicht zu übersehen. Dies könnte für Israel ein Motiv darstellen, sich mit der Kritik an Russland zurückzuhalten.
Drei Premierminister in einem Jahr: der Einfluss der Innenpolitik auf die Positionierung im Ukrainekrieg
Mit der Vereidigung des neuen Kabinetts unter der Führung Benjamin Netanyahus ist inzwischen die dritte israelische Regierung während des Krieges im Amt. Zu Beginn des Konfliktes war noch Naftalie Bennett, Vertreter einer nationalkonservativen Partei, Premierminister Israels. Aufgrund von Differenzen zwischen den Koalitionsparteien beschloss das israelische Parlament die Selbstauflösung und Durchführung von Neuwahlen. Im Sommer 2022 übernahm der liberale Yair Lapid bis zur Bildung einer neuen Regierung das Amt des Premierministers. Benjamin Netanyahu ging aus den Neuwahlen als Sieger hervor und bildete eine neue Koalition. Diese nahm am 29. Dezember 2022 ihre Arbeit auf und gilt als die rechteste Regierung, die Israel jemals hatte. Fraglich ist, ob die verschiedenen Premierminister eine unterschiedliche Position im russischen Krieg gegen die Ukraine eingenommen haben.
Bennetts strategische Zurückhaltung zu Kriegsbeginn: Im Gegensatz zur verhaltenen Äußerung Bennetts verurteilte der damalige Außenminister Yair Lapid die russische Aggression deutlich. Israel sicherte rasche humanitäre Hilfslieferungen für die Ukraine und die Aufnahme von ukrainischen Kriegsgeflüchteten zu. So wurden noch im März 2022 einhundert Tonnen Hilfsgüter in die Ukraine gesendet und im April 2022 ein Feldlazarett im ukrainischen Lemberg (Lwiw) errichtet. Am 5. März 2022 flog Bennett nach Moskau, wo er sich mit Putin traf und seine Hilfe als Mediator anbot. Die westlichen Verbündeten zeigten sich verwundert über den Alleingang Bennetts und kritisierten ihn deutlich. Auch an ausbleibenden Waffenlieferungen an die Ukraine und der Ablehnung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland gab es von Seiten des Westens Kritik. Bennett ließ verlauten, dass jegliche Möglichkeiten, die Ukraine zu unterstützen, geprüft werde. Jedoch solle eine Eskalation des Konfliktes vermieden und mit Besonnenheit reagiert werden. In den ersten Wochen des Krieges veröffentlichte Bennetts Regierung verschiedene Erklärungen, aus welchen Gründen israelische Waffenlieferungen nicht möglich seien. So stehe Israel in einem aktiven Konflikt mit dem Iran. Ferner wolle Israel die Zusammenarbeit mit Russland in Syrien nicht gefährden. Zudem würden Waffenlieferungen Israels angestrebte Vermittlerrolle beschädigen.
Lapid als Chance für eine pro-ukrainische Position: Der vorherige Außenminister Yair Lapid übernahm am 1. Juli 2022 die Regierungsgeschäfte bis zur Bildung einer neuen Regierung nach den Neuwahlen. Insbesondere die Ukraine erhoffte sich vom liberalen Politiker Lapid eine klarere Positionierung an der Seite des Westens sowie die Lieferung von Waffen. Unmittelbar nach Lapids Amtsantritt drohte Russland, eine jüdische Agentur zu schließen, die jüdische Russinnen und Russen bei der Immigration nach Israel unterstützt. In Israel wurde diese Drohung deutlich wahrgenommen. Obwohl Israel weiterhin humanitäre Hilfsgüter zur Verfügung stellte und auch Gelder transferierte, wurden keine Waffensysteme an die Ukraine geliefert. Als Russland im Herbst 2022 begann, im großen Stil kritische Infrastruktur und zivile Ziele fernab der Front zu bombardieren, wurde öffentlich, dass der Iran in beträchtlichem Umfang Drohnen und Trägerraketen an Russland lieferte. Die Ukraine hoffte, dass Israel als Reaktion auf den russisch-iranischen Schulterschluss aktiver würde und dringend benötigte Luftverteidigungssysteme liefern würde. Jedoch lehnte Israel dies ab. Hierbei nahm Lapid zwar rhetorisch eine pro-westlichere Position ein, indem er als Premierminister die russischen Angriffe verurteilte. Allerdings waren damit keine politischen Handlungen verbunden. Kurz vor den Neuwahlen riskierte er keinen politischen Alleingang und schloss sich der Meinung der Sicherheitsbehörden an, keine Waffensysteme zu liefern.
Netanyahu und Putin, zwei alte Bekannte: Die Parlamentswahl vom 1. November 2022 endete mit einem Sieg Benjamin Netanyahus. Die neue Regierungskoalition besteht aus vier Parteien, die dem ultraorthodoxen und antiliberalen Lager angehören. Die Ukraine, die USA und die Staaten der EU beobachten seitdem mit großem Interesse, wie sich die neue israelische Regierung zum Ukrainekrieg positioniert. Die Ukraine befürchtet, dass sich Israel unter Netanyahu Russland annähern wird, da die militärische Kooperation zwischen den beiden Staaten maßgeblich auf Verhandlungen der beiden Staatsoberhäupter Putin und Netanyahu zurückgeht. Die Verbindung der beiden ist geprägt von gegenseitigem Respekt. Der neue Außenminister Israels Eli Cohen ließ unmittelbar nach einem Gespräch mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow verlauten: „[I]n der Russland-Ukraine-Frage werden wir eines ganz sicher tun – öffentlich weniger darüber sprechen.“ Diese Aussage wurde von vielen Seiten als Verschiebung hin zu einer pro-russischen Position gedeutet, obwohl israelische Stellen mitteilten, die humanitäre Hilfe an die Ukraine werde fortgeführt und es gebe keine Änderung der Position Israels zum russischen Krieg in der Ukraine. Netanyahu selbst hat noch keine offizielle Stellungnahme abgegeben, sprach allerdings sowohl mit Wladimir Putin als auch mit Wolodymyr Selenskyj. In einem Interview mit der New York Times erläuterte Netanyahu, dass er sich zuerst vom Sicherheitsapparat unterrichten lassen wolle, bevor er eine Entscheidung über das weitere Vorgehen treffe. In diesem Interview legte Netanyahu dar, dass die Bedrohung durch den Iran und sein Einfluss in Syrien vitale Sicherheitsinteressen Israels tangieren, womit die Aufrechterhaltung der militärischen Kooperation mit Russland und die eigene militärische Handlungsfreiheit essenziell seien. Eine militärische Auseinandersetzung mit russischen Kräften in Syrien sei unbedingt zu verhindern. Netanyahu führte aus, dass für ein Land stets die Existenzsicherung einer moralischen Verantwortung vorzuziehen sei. Nichtsdestotrotz stimmte Israel in der jüngsten UN-Resolution vom 23. Februar 2023 für den Rückzug Russlands aus der Ukraine und die Einstellung der Kampfhandlungen. Dennoch bleibt fraglich, wie sich Israel aufgrund von Netanyahus Nähe zu Putin zukünftig positionieren wird,
Die große Anteilnahme der israelischen Zivilgesellschaft
Seit Beginn des Krieges solidarisiert sich die israelische Zivilgesellschaft mit der Ukraine und unterstützt sie durch Spenden und ehrenamtliche Hilfe. In einer ersten Umfrage der Jerusalemer Post vom 5. März 2022 sprachen sich drei Viertel der Bevölkerung für die Unterstützung der Ukraine aus. Zugleich befürwortete die Mehrheit der Befragten die Neutralitätspolitik des Kabinetts Bennett, wohingegen sich nur ein Drittel eine klarere Politik zugunsten der Ukraine wünschte. Dieses Ergebnis bestätigte sich auch in einer weiteren Umfrage des Israel Democracy Institute vom 25. März 2022. Hier bekundeten 67 Prozent, dass das von Putin geführte Russland verantwortlich für den Konflikt sei. Allerdings sprach sich auch hier nur weniger als ein Viertel der Bevölkerung für Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Eine klare Mehrheit von 76 Prozent bestätigte den Kurs der Regierung, sich auf die Lieferung humanitärer Hilfsgüter und die Aufnahme von Kriegsgeflüchteten zu beschränken.
Es besteht eine hohe Anteilnahme an dem Konflikt, der auch darin begründet ist, dass ca. 15 Prozent der israelischen Bevölkerung aus der ehemaligen Sowjetunion stammen und sowohl in der Ukraine als auch in Russland große jüdische Gemeinden existieren. Die israelische Gesellschaft hat dementsprechend ausgeprägte familiäre und historische Verbindungen zu beiden Ländern.
Israels Russlandpolitik: Strategische Kurzsichtigkeit oder realpolitische Notwendigkeit?
Insgesamt wird Israels außenpolitischer Kurs maßgeblich von realpolitischen Ansichten bestimmt. Die Eindämmung des iranischen Einflusses in der unmittelbaren Nachbarschaft Israels stellt für das Land ein vitales Sicherheitsinteresse dar. Folglich wird die Kooperation mit Russland in Syrien über Waffenlieferungen an die Ukraine priorisiert, um die militärische Zusammenarbeit nicht zu gefährden. Allerdings warnen kritische Stimmen aus Wissenschaft und Militär auch davor, sich zu sehr auf Russland zu verlassen. Die vertiefte Kooperation zwischen dem Iran und Russland stelle ein potenziell gefährliches Bündnis für Israel dar. Russland könnte im Gegenzug für iranische Waffenlieferungen das iranische Atomprogramm fördern oder den syrischen Luftraum für israelische Militäraktionen sperren. Israel sollte daher seine Bedeutung für Russland nicht über- und seine militärische Stärke nicht unterschätzen. Letztlich stellt sich für Israel die Frage, ob man sich aus der strategischen Abhängigkeit zu Russland lösen und wieder den USA, seinem historisch wichtigsten Partner, zuwenden sollte.
*Der Autor hat den Beitrag im Rahmen des Forschungspraktikums von PD Dr. Ines-Jacqueline Werkner im WiSe 2022/23 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. verfasst.