Blog des Arbeitsbereichs Frieden der Fest in Heidelberg

Was, wenn die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann?

Ines-Jacqueline Werkner

© Wilfried Pohnke/Pixabay

Der Krieg in der Ukraine geht bereits in sein drittes Jahr. Es ist ein brutaler Abnutzungskrieg mit hohen Verlusten und enormen Zerstörungen. Für die Ukraine wird die Lage immer schwieriger: Nach der gescheiterten Frühjahrsoffensive 2023 mussten sich die ukrainischen Truppen nun auch aus Awdijiwka zurückziehen. Derzeit scheint Russland im Begriff, militärisch die Oberhand zu gewinnen. 

„Die Ukraine darf nicht verlieren“ 

Der politische Mainstream geht unverändert davon aus, dass die Ukraine nicht verlieren wird bzw. nicht verlieren darf. So betonte Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung vom 20. März 2024: „Wir werden keinen Diktatfrieden zulasten der Ukraine akzeptieren.“ In ähnlicher Weise warnte jüngst auch Robert Habeck: 

„Wenn die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann, also verliert, dann wird es weitergehen. Und deswegen sind alle, die die Demokratie verteidigen wollen, alle Länder, alle Regierungen, noch einmal angehalten, die Ukraine jetzt zu unterstützen“.

18. April 2024 im Interview mit Christian Sievers, ZDF

Und ebenso konstatierte Generalmajor Christian Freuding, Leiter des Lagezentrums Ukraine und des Planungs- und Führungsstabes des Bundesministers der Verteidigung, in einem Interview: 

„Er [der Krieg, Anm. d. Verf.] wird dann enden, wenn die Ukraine den Krieg gewonnen hat“. 

4. Februar 2024 im Interview mit Markus Decker, RND

Was aber, wenn es anders kommt und die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann? Ein Abnutzungskrieg begünstigt die Seite mit den größeren Ressourcen – und das ist gegenwärtig Russland: mit weitaus mehr Personal, mehr Waffen und mehr Munition. Der Westen unterstützt die Ukraine zwar mit immer umfangreicher werdenden Waffenlieferungen. Reichen diese aber für einen Sieg aus? Und was ist, wenn der Ukraine die Menschen ausgehen? Nachdem wir stets beteuert haben, dass die Ukraine nicht verlieren darf, nachdem wir über Jahre Waffen geliefert haben, nachdem Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer für ihr Land und unsere Freiheit gestorben sind – geben wir dann die Ukraine und ihre Souveränität auf und akzeptieren einen russischen Diktatfrieden, um keinen Weltkrieg zu provozieren? Oder unterstützen wir sie notfalls auch mit eigenen Truppen, um die Freiheit und den Frieden nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Europa nachhaltig zu sichern? 

NATO-Truppen in die Ukraine?

Nachdem zehntausende ukrainische Soldaten verwundet oder an der Front gefallen sind, benötigt das Land schon jetzt dringend neue Soldatinnen und Soldaten. Bislang hat die Ukraine den Westen nicht gebeten, sie gemäß Art. 51 UN-Charta (kollektive Selbstverteidigung) auch mit Truppen zu unterstützen. Das könnte sich aber ändern, wenn sich die Lage weiter zuspitzt und die Front kollabiert – eine Konstellation, die Expertinnen und Experten für nicht unrealistisch halten. In diesem Kontext steht auch der Vorstoß des französischen Präsidenten Emmanuel Macron vom Februar 2024, die Option einer Entsendung westlicher Bodentruppen in die Ukraine nicht auszuschließen. Während Länder wie Polen oder auch Litauen dazu durchaus bereit sind, reagierte Deutschland auf Macrons Vorschlag umgehend mit einer klaren Absage. So dürfe die NATO keine Kriegspartei werden. 

Geht man davon aus, dass der Krieg militärisch entschieden wird – weil Friedensverhandlungen mit Wladimir Putin als nicht möglich angesehen werden und auch ein Regimewechsel in Russland nicht erkennbar ist –, dann ist der Vorschlag des französischen Präsidenten nur folgerichtig. Letztlich steht der Westen für den Fall, dass Russland militärisch die Oberhand gewinnt, vor einer Dilemmasituation: Wird das Hilfsversprechen an die Ukraine ernst genommen, wird bei einem solchen Szenario der Einsatz von NATO-Truppen in der Ukraine unabdingbar. Beharrt dagegen der Westen darauf, nicht Kriegspartei zu werden, verliert er an Glaubwürdigkeit.

Oder doch: Einfrieren des Konfliktes?

Im Lichte dieser Entwicklungen hat der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich für ein Einfrieren des Ukrainekrieges plädiert:

„Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“

14. März 2024 im Deutschen Bundestag

Daraufhin folgte ein Sturm der Entrüstung. Sowohl der Verteidigungsminister als auch die Außenministerin distanzierten sich von dieser Aussage. Als „absolut inakzeptabel“ bezeichnete Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Abgeordneten im Bundestag, diesen Vorschlag; er halte ihn „bestenfalls für naiv, aber eigentlich für sehr gefährlich“ (Tagessschau vom 19. März 2024). 

Wäre dieser Vorschlag eine Alternative? Zunächst einmal ist das Einfrieren eines Konfliktes – so der Völkerrechtler Stefan Oeter – „eine eher hässliche Option“, denn „[d]ieses Einfrieren wird die Kampfhandlungen nicht wirklich beenden, sondern […] die Intensität der Kampfhandlungen nur auf ein deutlich geringeres Maß heruntermoderieren“. Gleichwohl sei sie „politisch wie normativ erstrebenswert“, da ein Waffenstillstand zunächst einmal dem massenhaften Sterben und der Vernichtung ein Ende setzen kann. 

In diese Richtung votierte auch Henry Kissinger, ehemaliger Außenminister der USA und ein führender Vertreter der realistischen Schule der Internationalen Beziehungen – also wahrlich kein Pazifist oder Putinversteher. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2023 schlug er vor, die Front entlang der Vorkriegslinien – gemeint ist der Frontverlauf entlang der 2014 von Russland annektierten Krim und der von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete in Donezk und Luhansk – einzufrieren. Auf dieser Basis sei es dann möglich, einen Waffenstillstand zu vereinbaren und später mit Russland über die Lösung des Konfliktes zu verhandeln. Zugleich sprach er sich für einen NATO-Beitritt der Ukraine aus. 

Auch der Vorschlag von Mary Elise Sarotte, US-amerikanische Historikerin an der John-Hopkins-Universität, geht in diese Richtung. Sie spricht sich für das sogenannte ‚deutsche Modell‘ aus. Das würde eine (zeitlich befristete) de facto-Teilung des Landes bedeuten. D.h. die von Russland im Krieg eingenommenen Gebiete blieben erst einmal russisch besetzt, ohne aber diesen neuen Grenzverlauf völkerrechtlich anzuerkennen (in Analogie zur DDR). Formal blieben diese Gebiete ukrainisches Territorium. Zugleich würde die (Rest-)Ukraine in die NATO aufgenommen, um weitere russische Angriffe oder Eskalationen zu vermeiden: „If a Divided Germany Could Enter NATO, Why Not Ukraine?“ (Mary Elise Sarotte)

Fazit

Ein gutes Ende des Ukrainekrieges ist nicht in Sicht; die Szenarien sind allesamt düster. Definiert man einen Sieg der Ukraine in den Grenzen von 1991, dann läuft es bei der gegenwärtigen militärischen Stärke Russlands auf eine unmittelbare NATO-Beteiligung und ggf. auf einen dritten Weltkrieg hinaus. Dieser Weg wäre folgerichtig und konsequent im Sinne der kollektiven Selbstverteidigung, aber risikoreich. Alternativen zu diesem Szenario sind dagegen durchaus bedenkenswert, auch wenn sie ein Abrücken vom Maximalziel bedeuten würden. Das Einfrieren des Konfliktes könnte eine solche Alternative sein – weniger konsequent, dafür aber eine Lösung mit geringerem Risiko und – das haben die Ansätze von Henry Kissinger und Mary Elise Sarotte verdeutlichen können – auf keinen Fall naiv. 

2 Kommentare

  1. Karl-Peter Wernz

    Endlich eine Analyse des Ukrainekonflikts mit klarer Sprache und einer Analyse vor der sich westliche Politiker und die Medien bisher scheuen. Nur mit Waffenlieferungen und Geld st dieser Konflikt nicht zu lösen. Ich würde mir wünschen, dass man sich auch in der öffentlichen Diskussion nicht davor scheut die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen wird. Die Kernfrage aus meiner Sicht lautet: Welchen Beitrag sind demokratische Staaten bereit zu leisten, um die Kriegshandlungen in der Ukraine zu beenden. Ist die Staatengemeinschaft bereit die staatliche Souveränität der Ukraine für einen, wenn ggf. auch nur zeitlich befristeten Frieden zu opfern, oder verteidigen wir demokratische Werte kompromisslos und bieten Putin um jeden Preis, auch militärisch, die Stirn ? Ich habe leider auch keine Antwort, aber abwarten und sich unvorbereitet von aktuellen Entwicklungen überrumpel zu lassen ist die schlechteste Alternative.

  2. Magnus Schlette

    Ines-Jacqueline Werkner bringt in ihrem Kommentar „Was, wenn die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann“ erneut den vor einer Weile in Parlament und Öffentlichkeit weitgehend ‚abgebügelten‘ Vorschlag des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich ins Spiel, angesichts der perspektivenlos anmutenden Frontlage die Option eines Einfrierens des Ukraine-Kriegs zu bedenken. Das halte ich insofern, gewissermaßen debattenstrategisch, für richtig, weil ich glaube, dass besonnene Entscheidungen aus der Abwägung eines möglichst großen Spektrums von Optionen hervorgehen und keine davon – insbesondere, wenn sie die Intuitionen eines großen Teils der Bevölkerung widerspiegeln – vorschnell aufgegeben werden sollte. Trotzdem folgende kritische Anmerkungen zu ihrer Argumentation:

    1. Zur Zeit liegt die Initiative beim russischen Militär. Warum sollte Putin, dessen Kriegsziele – von seiner langfristigen geopolitischen Strategie einmal ganz abgesehen – weit über den status quo hinausgehen, ausgerechnet jetzt ein Interesse am Einfrieren des Krieges haben? Tatsächlich hat er sich bereits selbst spöttisch über die Option einer Verhandlung in einer Situation geäußert, in der das Momentum des Krieges ganz auf russischer Seite liegt. Der Vorschlag scheint mir also unter Berücksichtigung der russischen Perspektive auf den Krieg unrealistisch zu sein.

    2. Immer wieder wird – zu Recht – betont, dass die Initiative für Verhandlungen über das Einfrieren des Krieges bei der Ukraine liegen muss. Es könne nicht sein, dass fremde Mächte über die Zukunft der Ukraine entscheiden. Wie kann die Ukraine angesichts des Mordens, des Verschleppens von Menschen usw. in den von den russischen Streitkräften besetzten Gebieten sich bereiterklären, seine dortige Bevölkerung ‚im Stich zu lassen‘. Dies könnte doch wirklich nur die ultima ratio sein, würde also wohl allenfalls dann von der Ukraine erwogen, wenn es immer wahrscheinlicher würde, dass die Front zusammenbricht und die Ukraine weitere große Teile ihres Staatsgebiets verlieren würde. Dann aber (siehe Pkt. 1) dürfte wiederum auf russischer Seite kein Interesse an Verhandlungen dieser Art bestehen. Der Vorschlag scheint mir also auch unter Berücksichtigung der ukrainischen Perspektive auf den Krieg unrealistisch zu sein.

    3. Kissingers Vorschlag einer Kombination aus Einfrieren des Krieges und Nato-Beitritt der Restukraine setzt auf die Abschreckungskraft der Nato. Würde diese Abschreckungskraft nicht überschätzt, wenn die Ukraine jetzt aus Gründen der Risikovermeidung zum Einfrieren des Krieges gedrängt würde? Die Abschreckungskraft der Nato hat mutmaßlich ohnehin schon gelitten. Wäre sie noch die alte, hätte Putin den Krieg überhaupt begonnen? Aber schon de Gaulle war sich nicht sicher, ob die Amerikaner im Falle eines atomaren Konfliktes wirklich bereit seien, New York für Paris aufzugeben. Ich halte die Gefahr der Eskalation in Richtung eines nuklearen Konfliktes für größer, wenn die westlichen Staaten nun für ein Einfrieren des Konfliktes plädierten, denn diese Entscheidung würde die Glaubwürdigkeit der Bereitschaft einschränken, im Falle einer erneuten Risikoabwägung, wenn es um Gebietsstreitigkeiten zwischen Russland und der Nato-Ukraine ginge, tatsächlich ‚aufs Ganze‘ zu gehen. Umso mehr dann, wenn die USA als Waffenlieferant ausfallen.

    4. Mit Verlaub, Mary Elise Sarottes historische Analogie für eine Teilung der Ukraine hinkt. Besser passt doch wohl der hypothetische Fall, England hätte Deutschland gar nicht erst aus Beistandspflicht für Polen den Krieg erklärt, sondern zunächst 5000 Helme geschickt und dann halbherzig Waffen, um sich später mit Nazi-Deutschland und Stalins Sowjetunion einvernehmlich auf die Teilung Polens zu einigen, in der Hoffnung, dadurch eine weitere Eskalation zu vermeiden. Oder von westlicher Seite wäre die Besetzung der Ukraine durch die Wehrmacht im Gegenzug dafür akzeptiert worden, die Belagerung Leningrads aufzugeben und den Angriffskrieg abzubrechen.

    5. Der Titel des Kommentars wirkt angesichts der Unterstützungslage zynisch auf mich. Denn Europa hat längt nicht genug getan, um die Ukraine zu unterstützen. Die Lieferung von Waffen wurde verzögert, zu wenige Waffen wurden geliefert und die Lieferung wurde mit für mich nachvollziehbaren, aber m.E. falschen Auflagen verbunden. Auch wenn die USA die größte Volkswirtschaft der Welt sind, ist mir unverständlich, warum die Europäer sich nicht entschließen können, mehr zu tun, als die Ukraine langsam ‚ausbluten‘ zu lassen. Sicherlich sollte die Ukraine zu bestimmten Konzessionen Russland gegenüber bereit sein, aber sie muss es m.E. aus einer Haltung der Stärke heraus sein können, für die Europa mitverantwortlich ist. Denn dieser Krieg ist ein europäischer Krieg, und was auf dem Spiel steht, ist eine Art Finnlandisierung Europas.

    Abschließend: Ich schreibe dies alles unter Vorbehalt. Ich bin nicht an der Front gewesen, ich habe keine Kriegserfahrungen gemacht und bin auch nicht durch einen Krieg versehrt worden. Ich habe keine Angehörigen durch einen Krieg und auch nicht Hab und Gut verloren. Und es könnte sehr wohl sein, dass solche Schicksalsschläge mich zu einer anderen Einstellung zu diesem Krieg führen würden. Darum scheint mir eine pauschale Zurückweisung der Option eines Einfrierens des Krieges, auch wenn ich sie nicht teile, falsch zu sein.

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