Irena Pavlović

„Die Orthodoxie“ ist seit Jahren eine gespaltene Orthodoxie. Die aktuelle Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat den Konflikt innerhalb der Weltorthodoxie zusätzlich verschärft und das ohnehin niedrig einzustufende gegenseitige Vertrauen und Verstehen zwischen den Kirchen geschwächt.

Die Folgen des aktuellen „Risses“ in der Weltorthodoxie sind so gravierend, dass eine Perspektive auf die Versöhnung zwischen den orthodoxen Kirchen selbst in Frage gestellt wird. Viel wichtiger: neben diesem innerorthodoxen Konflikt befindet sich „die Orthodoxie“ derzeit im brutalen, militärisch ausgetragenen Krieg. Und „die Orthodoxie“ im Krieg versagt wiederholt. Wiederholt wird der Krieg religiös gerechtfertigt. Dieses Mal von einem Patriarchen selbst. Diese Positionierung des russischen Patriarchen Kyrill I. wirft viele Fragen auf, insbesondere: Wie ist die Haltung des Patriarchen zu verstehen und ist diese Haltung durch die orthodoxe Theologie bzw. ein Fehlen der sozialethischen Reflexionen zu erklären?  

Um diese Fragen skizzenhaft zu beantworten, werde ich zunächst die zentralen Narrative der Kriegskommunikation vom Patriarchen Kyrill I. sowie dem Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomäus I., dem Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie, vorstellen. Diese wurden gewählt, weil sie als typisch für eine eskalative bzw. deeskalative Kriegskommunikation zu betrachten sind. Keineswegs möchte ich damit suggerieren, dass diese repräsentativ für die jeweiligen Patriarchate sind oder einen binären Reduktionismus in der Wertung der Patriarchaten befürworten. Im Gegenteil, ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich auf die Pluralität der Positionen und Deutungen des Krieges innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche hinweisen. In einem weiteren Schritt werde ich die zentralen theoretischen Ansätze über Religion und Gewalt skizzieren, die für eine Einordnung der Rolle der russisch-orthodoxen Kirche bzw. des Patriarchen hilfreich sind. Schließlich werde ich die zwei wichtigsten sozialethischen Reflexionen über Krieg und Frieden anhand von relevanten Dokumenten der orthodoxen Kirchen vorstellen und der Frage nachgehen, ob diese die Kriegskommunikation der kirchlichen Akteure beeinflussen können. 

Kriegskommunikation der kirchlichen Akteure

Patriarch Kyrill I.

In der Kriegskommunikation des Patriarchen ist zunächst das Narrativ zu identifizieren, in dem die Vaterlandsliebe und die militärische Logik glorifiziert werden. Ein Tag vor dem Beginn des Krieges wurden im Schreiben an den Kreml-Chef Wladimir Putin zum Tag des „Verteidigers des Vaterlandes“ militärische Werte wie „Mut“, „Tapferkeit“, „glühende Liebe zum Vaterland“ und „Bereitschaft zur Selbstaufopferung“ des Volkes gepriesen und der „bedeutende Beitrag zur patriotischen Erziehung“ der Kirche betont, die „im Militärdienst eine aktive Manifestation der evangelischen Nächstenliebe“ sieht. Am 3. April 2022 feierte der Patriarch die Liturgie in der umstrittenen Hauptkirche der Streitkräfte der Russischen Föderation mit der Begründung, alle „Verteidiger des Vaterlandes“ und alle Menschen an die „historische Bedeutung“ des Krieges erinnern zu wollen, „von der das historische Schicksal unseres Volkes abhängen kann“. Dabei ermutigte er alle zur Stärke, Liebe zum „Vaterland“, und betonte die Relevanz der Opferbereitschaft der Streitkräfte. Der Patriarch betonte: „Der Dienst [der Streitkräfte] erfordert die Bereitschaft aller, die den Eid abgelegt haben, das Mutterland zu verteidigen, ohne ihr Leben zu schonen […]“. Diesem Eid treu zu verfolgen, bedeutet die Bereitschaft „unsere Seele für meine Freunde hinzugeben“, [Jh 15:13] wie dies das Wort Gottes bezeugt.“ 

Der Topos von der Einheit der „heiligen Rus`“ ist das zweite zentrale Narrativ in der Kriegskommunikation des Patriarchen. Da „Rus“ ein mehrdeutiger Begriff ist, bezieht sich auch der Patriarch bei dessen Verwendung auf unterschiedliche Phänomene: mal auf die Einheit des Volkes (nicht: Nation), mal auf die geistliche/kirchliche Einheit, mal auf die Einheit des (Vater-/Mutter-) Landes (nicht: Staat). Oft werden die verschiedenen Ebenen dabei vermischt.

Bei der Betonung von Einheit des Volkes ist zwar die Rede von „zwei brüderliche[n] Völker[n]“, doch diese seien „im Wesentlichen eins, das russische Volk“ (09.03.2022.). An anderer Stelle: „Schließlich sind all dies Menschen und Völker der Heiligen Rus`, all diese sind unsere Brüder und Schwestern“ (03.04.2022). Die Feinde „von außen“ wollten dieses Volk spalten und „die Teile dieses Volkes davon überzeugen, dass sie überhaupt nicht ein Volk“ (09.03.2022) seien. Indem der nationalistische Mythos der Einheit vom „russischen Volk“ betont wird, kann dies im Sinne einer Leugnung der ukrainischen Nation gedeutet werden. Allerdings ist hier zu betonen, dass der Patriarch selbst von „Volk“ und gerade nicht von der „Nation“ spricht. Dass dieses Volk in unterschiedlichen Staaten existiert, stellt der Patriarch nicht in Frage: „Jemand muss Gottes Wahrheit verteidigen, dass wir wirklich ein Volk sind, das aus dem Kiewer Taufbecken hervorgegangen ist! Ich weiß, wie die Gegner dieses Volkes jetzt dort, in der Ukraine, schreien werden: „Wieder sagt der Patriarch, dass wir ein Volk sind.“ Und der Patriarch kann nichts anderes sagen, denn das ist historisch und Gottes Wahrheit. Und die Tatsache, dass wir heute in verschiedenen Ländern leben, ändert nichts an dieser historischen Wahrheit und kann sich auch nicht ändern.“ Er bezieht sich eher auf die Vergangenheit, anstatt Zukunftsperspektiven zu eröffnen: „unser [der Ukraine und Russland] gemeinsames historisches Vaterland“. Auch hier spricht er davon, dass dieses „Vaterland“ von „dunklen, feindlichen, äußeren Kräften“ bedroht werde (27.02.2022).  

Bei der Rede über die geistliche Einheit im Glauben bzw. zur kirchlichen Einheit wird der gemeinsame Ursprung der kirchlichen Strukturen aus dem „Kiewer Taufbecken“ betont, weshalb er wiederholt vor der Gefahr des Schismas warnt. In dieser Konnotation bezieht sich die Redewendung von einem „Volk“ auf „ein Gottesvolk“ (13.03.2022). Wer hierzu gehört, verdeutlicht folgendes Zitat: „Möge der Herr uns allen helfen – Russen, Ukrainer, Weißrussen, alle Völker, die aus derselben Wurzel kamen, aus dem Kiewer Taufbecken kamen, um unsere geistliche Einheit zu bewahren, um die Spaltung unserer Kirche zu verhindern“ (09.03.2022). Auch hier wollen die „äußeren Feinde“, die „böse[n] Kräfte“ die kirchliche Einheit zerstören (27.02.2022).

Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Kommunikation betrifft die Deutung des Krieges durch das Narrativ Krieg als Ereignis. Zunächst ist hervorzuheben, dass der „Krieg“ zumindest begrifflich verschwiegen oder präziser nicht beim Namen genannt wird. So sprach der Patriarch in einer Ansprache an Gläubige vom 24. Februar 2022 von „Ereignissen“ und zeigte zwar Solidarität mit allen, die von dieser „Katastrophe“ berührt würden, allerdings ohne dabei weder den Krieg noch die Aggression zu benennen oder gar eine Stimme gegen den Angriffskrieg zu erheben. Diese Strategie des „befremdlichen Verschweigens“ des Krieges dominiert die Kommunikation. So wird vom „Konflikt“ zwischen Russland und der Ukraine (09.03.2022, 23.04.2022), von „Ereignissen“, „Widersprüchen“ (23.04.2022), „gefährlichen Prozessen“ (07.04); singulär in der vorbenannten Predigt an Soldaten wird von „Kriegszeiten“ und „militärischen Zusammenstößen“ gesprochen (03.04.2022).

Das vierte Narrativ ist durch drei Rechtfertigungen für den Krieg bestimmt. Als ersten Rechtfertigungsgrund für den Krieg werden die Menschenrechtsverletzungen benannt. So wird der Krieg als eine Art russische „humanitäre Intervention“ betrachtet. Den „Beginn der Feindseligkeiten“ sieht der Patriarch in der seit 2014 andauernden „Unterdrückung und Vernichtung von Menschen“ im Donbass, in der Verdrängung der russischen Sprache und der  „historischen und kulturellen Tradition“ (11.03.2022), die „von der Weltöffentlichkeit“, so der Patriarch, verschwiegen würde (06.03.2022, 11.03.2022). Zweiter Rechtfertigungsgrund ist die Verteidigung vor einer geopolitischen Bedrohung. So läge die Kriegsursache in externen geopolitischen Akteuren und deren Handlungen. Im Schreiben an den Generalsekretär des Ökumenischen Rates der KirchenIoan Sauca, vom 11. März 2022 wird als Ursache des Krieges die NATO-Osterweiterung als erklärtes Hauptziel anderer Akteure benannt, um „Russland zu schwächen“ (so auch 09.03.2022). Der Krieg wird in diesem Narrativ als Wertekonflikt gedeutet, indem die Idee einer unipolaren Weltordnung abgelehnt wird. Diese „fundamentale Ablehnung“ geschieht durch Infragestellung der Werte dieser Weltordnung (im Wortlaut: „Weltmacht“) (06.03.2022). Vereinfacht werden diese „sogenannten Werte“ der „glücklichen/heilen Welt“ des Westens auf „exzessiven Konsum“ und „scheinbare „Freiheiten““ reduziert. Die Gay-Pride-Parade wird als Signum dieser „scheinbaren Freiheiten“ betrachtet (06.03). Als letzten Rechtfertigungsgrund wird auf die vermeintliche metaphysische Dimension dieses Krieges hingewiesen. Da „diese Werte“, die sich in der Gay-Pride-Parade manifestieren würden, eigentlich ein Ausdruck der „Sünde“ seien, hätten die Geschehnisse aus dem internationalen Bereich nicht lediglich eine politische, sondern ebenso eine metaphysische Bedeutung. Der Patriarch folgert daraus „Es geht um etwas anderes und viel wichtigeres als Politik. Es geht um das menschliche Heil […]“ (06.03.2022) schlechthin. Der Teufel als „der Vater aller Lügen“, der das Ziel habe, „menschliche Seelen zu zerstören, Menschen in Konflikte zu treiben“, bringe durch „bestimmte Menschen und deren Vereinigungen“ „Lügen in die Beziehungen zwischen unseren Völkern“ und verursache den Konflikt (09.03.2022).

Patriarch Bartholomäus I.

Patriarch Bartholomäus I. erstes Narrativ ist, den Krieg zu benennen. Er hat zügig nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine den Angriff der russischen Truppen klar verurteilt. In Telefonaten mit Metropolit Epifanij, dem Oberhaupt der Orthodoxen Kirche der Ukraine, sowie dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski, hat er seine Unterstützung für das ukrainische Volk zum Ausdruck gebracht, das „für Gott und Vaterland“ kämpfe. In seinem Hirtenbrief zum Beginn der Fastenzeit sprach er von „unsäglichen Schrecknissen eines unverschuldeten, widersinnigen Angriffskriegs […]“. Bei seinem Besuch in Polen formulierte er das Leid der durch „unjustified and unjustifiable aggression“ von Russland auf einem souveränen, ukrainischen Staat, einer „invasion of their sovereign land by a neighboring aggressor“. Ein „terrible war“ sowie eine „atrocious invasion“ seien verursacht worden. Bereits zu Beginn des Krieges hatte er zu einem sofortigen Waffenstillstand aufgerufen (04.03.2022). Das wiederholte er auch anlässlich des diesjährigen Osterfestes: „Tonight, on this blessed night, we call once again for an immediate end to the fratricidal war, which, like any war, undermines human dignity and is a provocative violation of the Lord’s commandment of love for our fellow human beings.“

Zweites Narrativ seiner Kommunikation ist die Solidarität mit den Opfern der Invasion und zwar allgemein mit dem ukrainischen Volk, zivilen Opfern der Gewalt und mit den geflüchteten Menschen. Die Solidarität mit dem ukrainischen Volk, das er „martyric Ukraine“ und „gottesfürchtiges ukrainisches Volk“ nennt, manifestiert sich in der Identifizierung mit ihrem Leiden sowie im Gebet: „Wir leiden gemeinsam mit unseren geprüften Mitbrüdern und Kindern und intensivieren unsere Gebete zum Herrn des Erbarmens und Gott des Friedens für eine sofortige Feuerpause und für den Sieg jener Gerechtigkeit und jenes Friedens, die der Vorgeschmack der vollkommenen Freude des Reiches Gottes sind.“ Auch in der Osterbotschaft bekundete er diese Solidarität mit den Worten „Wir leiden mit dem frommen, mutigen ukrainischen Volk, das ein schweres Kreuz trägt“ (04.03.2022). Die Solidarität mit den zivilen Opfern des Krieges manifestiert sich ebenfalls im Aufruf zum Gebet: „Let us ask the Risen Redeemer that this year’s Pascha will be the impetus to open humanitarian corridors, safe passages to truly safe areas for the thousands of people surrounded in Mariupol, civilians, among them the wounded, the elderly, women and many children. The same applies to all other regions of Ukraine, where an indescribable human tragedy is unfolding”. Die Solidarität mit den Flüchtlingen habe einen hohen Stellenwert. So sagte er: „My exclusive focus these days is to stand in solidarity and prayer with the millions of refugees who have been forcibly displaced […]“ Diese Solidarität habe er durch seinen Besuch in Polen anlässlich der Flüchtlingsbewegung demonstriert, die ihn zutiefst berührt habe: „What I realized very intensely during my visit here is that sometimes there is only room for tears. Sometimes the only appropriate response is silence. Sometimes we can only share the power of touch, of consolation, of sitting beside someone.“ Diese Solidarität, die er auch „a heavenly gift“ nannte, „is the only thing that can overcome evil and darkness in the world.“ 

Im dritten Narrativ reflektiert er eindrucksvoll die Rolle der Kirche im Krieg. Diesem Thema widmet er sich in der Osterbotschaft (23.04.2022), in der er zunächst grundsätzlich Kriege ablehnt: „Der Krieg löst nicht nur keine Probleme, er verursacht vielmehr neue und noch größere Probleme. Er sät Zwietracht und Hass und vergrößert die Kluft zwischen den Völkern. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Menschheit ohne Kriege und Gewalt leben kann.“ Das Wirken der Kirche und Christ*innen im Krieg beschreibt er wie folgt: „Die Kirche Christi wirkt von Natur als Friedensstifterin. Sie betet nicht nur um den „Frieden von oben“ und den „Frieden der ganzen Welt“, sondern betont auch, wie wichtig es ist, dass die Menschen sich für den Frieden einsetzen. „Frieden stiften“ ist das, was einen Christen vor allem auszeichnet.“ Mit Bezug auf das sozialethische Dokument Für das Leben der Welt“, Das soziale Ethos der Orthodoxen Kirche, auf das später noch weiter eingegangen wird, betonte er, dass die Kirche „die Märtyrer, die ihr Leben für den Frieden hingegeben haben, als Zeugen der Macht der Liebe, der Schönheit der Schöpfung in ihrer ursprünglichen und vollendeten Gestalt und für das Ideal des menschlichen Verhaltens, wie Christus es während Seines irdischen Dienstes empfohlen hat“ (§ 44), ehre.

Im Vergleich dazu wirkt die Kriegskommunikation des Patriarchen Kyrill I. eskalativ. Bartholomäus I. sucht dagegen die Deeskalation. Der Krieg wird von Kyrill I. gar mit religiösen Argumentationsmuster sakralisiert, wogegen sich beim Bartholomäus I. trotz der mit religiösen Symbolen aufgeladenen Sprache keine Rechtfertigung des Krieges findet. Da beide christlich-orthodoxe Theologen sind, kann gesagt werden, dass ihre Haltung zum Krieg und Frieden nicht durch die Variable einer monolithischen „Orthodoxie“ zu erklären ist. 

Deutung der religiös legitimierenden Gewalt

Auf die Suche nach weiteren Erklärungen der kommunikativen Muster der Patriarchen scheinen mir die Ansätze zumVerhältnis von Religion und Gewalt hilfreich. Diese politikwissenschaftlichen Ansätze wurden von Volker Rittberger und Andreas Hasenclever entwickelt und sind hier aus dreierlei Gründen von Interesse. Zum einem dienen sie einem besseren Verständnis der Rolle von Religion im Krieg; zum anderen sind sie hilfreich für die 
Einordnung der (populär-)wissenschaftlichen Erklärungen dieser Rolle und schließlich sind sie von Relevanz, weil aus diesen theoretischen Reflexionen auch praktische Strategien für eine Domestizierung der religiös geprägten Gewalt entwickelt wurden. 

Der erste Ansatz wird als Primordialismus bezeichnet. Vereinfacht gesagt, ist in diesem geopolitischen Ansatz zentral, dass nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung in den 90er Jahren des 20 Jh. anstelle der politischen Ideologie die Kultur ausschlaggebend in den internationalen Beziehungen war. Religion wird in diesem Ansatz als zentrales Merkmal der Kultur betrachtet, das zur Abgrenzung von anderen Kulturkreisen dient und unausweichlich zu gewalttätigen Konflikten bzw. zum clash of civilizations (Samuel P. Huntington) führt. Religion fungiert demnach als eine unabhängige Variable im Konflikt, da sie per se kulturelle Identität ist. Mit anderen Worten: Religion ist primordial in einem Konflikt. Dies führt in der Konsequenz zu Bruchlinienkriegen bzw. Identitätskriegen zwischen Gruppen unterschiedlicher Religionen. Die neuen Kriege werden gar als Religionskriege benannt. In Anbetracht dieser religiösen Gefahren empfehlen die Primordialisten „die klassischen Strategien der Machtpolitik, denn: „Wie einst im Kalten Krieg so könne auch im aufziehenden Zeitalter der Kultur- und Religionskriege nur ein stabiles Gleichgewicht des Schreckens den Ausbruch von militärischer Gewalt zwischen den Blöcken verhindern“ (Rittberger & Hasenclever).

Die Huntigton`schen Annahmen erleben derzeit eine Renaissance. So wird der aktuelle Krieg gelegentlich zum ersten Religionskrieg des 21. Jahrhunderts und gar zum „Kreuzzug für die russische Orthodoxie“ erklärt. Doch dieser Ansatz bringt mehr Verwirrung als das er in der Lage wäre, irgendwelche Antworten zu geben außerhalb der Unterstützung der konfrontativen und militärischen Logik. Im Kontext der Rede über ,die Orthodoxie‘ sind primordialistische Deutungen persistent, und unter den Byzantismus-Diskurs einer stereotypen und gelegentlich aus rassialisierenden Repräsentation einzuordnen. In aktuellen Debatten über die Deutung der Rolle der russisch-orthodoxen Kirche wird in primordialistisch geprägten Diskursen vor allem die Strategie der Naturalisierung bzw. Essentialisierung angewandt, etwa durch Behauptung einer angeblich intrinsischen Neigung der Orthodoxie zu autoritäreren und gar totalitären Staatsformen. Auch eine binäre Wertung der „defizitären“ Orthodoxie, die intrinsisch zur Gewaltverherrlichung neigt, wird gelegentlich diskursiv vertreten. 

Als zweiten Erklärungsrahmen kann der Ansatz der Instrumentalisierung herangezogen werden. Die Protagonisten dieses Ansatzes deuten die Kriege in den traditionellen Kategorien von Macht- und Interessenpolitik der konkurrierenden Akteure, die primär um politische und wirtschaftliche Ressourcen kämpfen (Rittberger & Hasenclever). Sie gehen, unterstützt durch empirische Untersuchungen, davon aus, dass die religiöse Dimension lediglich in den seltensten Fällen eine genuine Konfliktursache ist. Die Religion wird aus der Sicht der Instrumentalisten in einem Konflikt vor allem als ein Instrument der politischen Eliten für die Durchsetzung ihrer eigenen machtpolitischen Interessen betrachtet. Die politische Elite bedient sich dabei aus Eigeninteresse der religiösen Tradition als Mobilisierungs- und Legitimierungsressource.

Der religiöse Aktivismus bzw. die Rolle der religiösen Akteure bleibt in diesem Ansatz sekundär. Das System „Religion“ wird benutzt, „als Mittel zur Abgrenzung gegenüber ,Ungläubigen‘ und zum Aufbau eines Feinbildes; in radikaler Form gar zur buchstäblichen Verteufelung aller Andersgläubigen oder ,Ungläubigen‘, die sowohl für eine aktuelle Misere als auch für ,das Böse‘ in der Welt schlechthin verantwortlich gemacht werden (können), und die letztlich − quasi in Erfüllung einer religiösen Pflicht mit − allen Mittel besiegt und/oder vernichtet werden müssen.“ Trotz der Instrumentalisierung des „Sakralen“ bleibt in dieser Leseart der Konflikt säkular. 

Dieser Ansatz ist sicherlich vor allem für die politikwissenschaftliche Perspektive von Relevanz. Als Musterbeispiel im aktuellen Krieg kann Putins Rede im Stadion am Jahrestag der Annexion der Krim am 18. März 2022 dienen, in der die Stelle aus dem Johannes Evangelium (15:13) zur Steigerung der Kampfmoral und Opferbereitschaft instrumentalisiert wird. Der Ansatz der Reduzierung von Konflikten auf Instrumentalisierung ist als Orientierungshilfe für die Prävention von Konflikten jedoch wenig hilfreich. Auch eine selbstkritische Reflexion über die Rolle der Religion bei der Entstehung und Verlauf eines Krieges wird dadurch nicht befördert. Wie problematisch das ist, verdeutlicht der Fall der serbisch-orthodoxen Kirche, in der bis dato keine selbstkritische Diskussion über ihre eskalative kommunikative Haltung während der postjugoslawischen Kriege stattgefunden hat, was eine Voraussetzung für die Einnahme der Rolle eines glaubwürdigen Friedenstifters sein könnte.

Im dritten Konstruktivismus Ansatz wird die Relevanz der Wahrnehmung der Konflikte aus der Perspektive der beteiligten Konfliktparteien hervorgehoben (Rittberger & Hasenclever). Kognitive Strukturen bzw. Frames, die „aus kollektiven Weltdeutungen, geteilten Werten und wechselseitigen Verhaltenserwartungen bestehen“, bestimmen die Selbst- und Fremdwahrnehmung, das Konfliktverhalten sowie den Mobilisierungsgrad der Konfliktparteien. Für eine Auseinandersetzung ist dabei von entscheidender Relevanz, wie diese Fremdwahrnehmung konstruiert wird, bzw. ob die andere Konfliktpartei als Freund oder Feind wahrgenommen wird. Ein Konflikt, der mit religiösen Symbolen arbeitet, kann vor allem aus drei Gründen zur gewaltigen Eskalation führen: Erstens, weil die eigenen Ansprüche überhöht und die fremden Ansprüche abgewertet werden, bzw. weil „die Gegenposition [. . .] zur Gotteslästerung [wird], der jede moralische Berechtigung abgesprochen wird“ (Rittberger & Hasenclever). Mit anderen Worten bedeutet dies eine Sakralisierung der eigenen und die Dämonisierung der gegnerischen Konfliktpartei. Dies geschieht etwa durch die Legitimierung bzw. Delegitimierung des gewalttätigen Handelns der Konfliktparteien seitens religiöser Akteure. Zweitens kann durch die Religion die Opferbereitschaft der involvierten Konfliktpartei unterstützt werden, indem das Leiden und der Tod religiös verklärt werden. Schließlich ergibt sich durch die religiöse Aufladung des Konfliktes ein Vertrauensverlust bzw. gegenseitiges Misstrauen. Da die andere Konfliktpartei zum Bösen schlechthin stilisiert wird, herrscht zwischen den Konfliktparteien eine Null-Summen-Situation, was bedeutet, dass die Gewinne der einen Seite als Verluste der anderen gedeutet werden. Auf dieser Weise wird die Konstruktion eines Freund-Feind-Schemas stabilisiert.

In Bezug auf die Religion wird hier ebenfalls die These von der Instrumentalisierung der Religion vertreten, mit dem Unterschied, dass hier der Fokus nicht auf der Rolle der Religion bei Entstehung eines Konflikts, sondern beim Verlauf eines Konfliktes an Relevanz gewinnt. Die religiösen Akteure können dabei selbst bestimmte kognitive Strukturen oder Frames zur Verfügung stellen, die zur Eskalation der Konflikte führen können. Aber Sie können auch deeskalierend wirken. So steht hier gerade dieser Aspekt im Zentrum des Ansatzes. Konstruktivisten haben zahlreiche Strategien empfohlen, wie sich die Religion vor der Instrumentalisierung in Konflikten und Kriegen schützen und als Friedensstifter agieren kann. Zu diesen Strategien gehören unter anderem die transnationale Vernetzung der Glaubensgemeinschaften durch Dialog, Friedenserziehung und Friedensbildung sowie Mediation. 

Der letzte Ansatz scheint mir die plausibelste Erklärung für die divergierende Kommunikation religiöser Akteure zu geben, denn er zeigt die Dependenz der Sprechakte von jeweiligen „diskursiven Gemeinschaften“. Dieser Ansatz erklärt aber nicht wie innerhalb dieser Gemeinschaften auch divergierende Stimmen erhoben werden können. Da Friedensbildung in dem zuletzt vorgestellten Ansatz als friedensfördernde Maßnahme betrachtet wird, werden im Folgenden sozialethische Diskussionen zum Thema Frieden und Krieg vorgestellt. Darüber hinaus soll danach gefragt werden, ob die unterschiedlichen Arten der Kommunikation von divergierenden theologischen Diskursen abhängen. 

Christlich-orthodoxe sozialethische Grundsätze einer Friedensethik 

Die sozialethischen Reflexionen werden anhand zweier Dokumente vorgestellt, die als theologische Referenzdiskurse der Patriarchen zu betrachten sind. Das erste Dokument hat die russisch-orthodoxe Kirche im Jahr 2000 unter dem Titel Grundlagen des Sozialkonzepts der Russischen Orthodoxen Kirche (im folgendem: SD) vorgelegt. Sie ist auch eine der ersten orthodoxen Lokalkirchen, die die sozialethischen Fragestellungen systematisch behandelt. Die ersten friedensethischen Reflexionen in dieser Form wurden im Kapitel VIII zum Thema Krieg und Frieden vorgelegt. Trotz der bemerkenswerten Rezeption in den Lokalkirchen hat dieses Dokument keine allgemeine Gültigkeit in ,der Orthodoxie‘, anders als dies gelegentlich behauptet wird. Erst zwanzig Jahre später wurde ein Dokument mit folgendem Anspruch veröffentlicht: For the Life of the World: Toward a Social Ethos of the Orthodox Church (im folgendem FLW), das ebenfalls Krieg, Frieden und Gewalt (Kapitel V mit dem Untertitel: For the peace of the whole world…) behandelt. Diese Schrift wurde von einer Kommission erarbeitet, die von Patriarch Bartholomäus I. eingesetzt worden war, um auf der Grundlage der Beschlüsse der Synode von Kreta 2016 sozialethische Fragestellung vertiefend darzustellen. Im Folgenden werde ich auf die zentralen Aspekte in diesen Dokumenten eingehen sowie auf Konvergenzen/Divergenzen bzw. Besonderheiten der Dokumente hinweisen. 

Erster Aspekt ist die Verurteilung des Krieges und die Betonung der friedenstiftenden Rolle der Kirche. Die Position beider Dokumente zum Krieg ist dezidiert negativ einzustufen. in SD wird Krieg als etwas Böses, dem Grund nach als „sündhafte[r] Mißbrauch der gottgegebenen Freiheit“ (VIII.1) betrachtet und als Ausdruck der menschlichen Sünde verurteilt. Nach FLW ist der Krieg „the most terrible manifestation of the reign of sin and death in all things“. […] (§42) und darüber hinaus konstatiert: „[a]ll human violence is in some sense rebellion against God and the divinely created order (§42). Einigkeit herrscht auch in der Hervorhebung der Friedensstiftung als zentralen Dienst der Kirche. In SD wird der Friede als „Geschenk Gottes“ und „Gabe der Göttlichen Liebe“ (VIII.5) betrachtet und gleichzeitig wird die Aufgabe der Friedensbemühungen der hervorgehoben: „Die Russisch-Orthodoxe Kirche strebt danach, ihren Dienst am Frieden sowohl im staatlichen als auch im internationalen Rahmen zu verwirklichen, indem sie ihre Bemühungen der Lösung der verschiedenen Widersprüche sowie der Harmonie unter den Völkern, den ethnischen Gruppen, den Regierungen sowie den politischen Kräften widmet.“ Zur Friedensaugabe der Kirche gehörten auch die deeskalativen Kommunikationsformen: „Die Kirche widersetzt sich der Kriegs- und Gewaltpropaganda und den verschiedenen Erscheinungsformen des Hasses, die in der Lage sind, brudermordende Konflikte zu provozieren.“ Zivile Optionen bei Friedensbemühungen stehen auch in der FLW im Vordergrund. „For Orthodox Christians, the way of peace, of dialogue and diplomacy, of forgiveness and reconciliation is always preferable to the use of violence, capital punishment, or police or military force. (§49). Zu diesem Aspekt herrscht eine Konvergenz zwischen den Dokumenten.

Zweiter zentraler Aspekt ist die Akzeptanz des Krieges als Mittel der Verteidigung. Beide Dokumente vertreten keine radikal pazifistische Haltung zum Krieg und betrachten Krieg als legitimes staatliches Mittel der Verteidigung. Im Wortlaut SD „Trotz der Erkenntnis des Krieges als Böses verbietet die Kirche ihren Kindern nicht, sich an Kampfhandlungen zu beteiligen, solange ihr Zweck die Verteidigung der Nächsten sowie die Wiederherstellung verletzter Gerechtigkeit ist. In solchen Fällen gilt der Krieg als unerwünschtes, allerdings unumgängliches Mittel. (VIII.2) Nach FLW: „While unequivocally condemning violence of any kind, it nevertheless recognizes the tragic necessity of individuals or communities or states using force to defend themselves and others from the immediate threat of violence.“ (§45). 

Dritter zentraler Aspekt ist die Haltung zur Idee vom sogenannten gerechten Krieg (bellum iustum), wo eine Divergenz zwischen den Dokumenten herrscht. In der SD wird an Ideen angeknüpft und auf Prinzipien hingewiesen, die als Orientierung in der moralischen Beurteilung des Krieges dienen: „Unter christlichen Gesichtspunkten muß das Verständnis von moralischer Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen von folgenden Hauptprinzipien ausgehen: Liebe zum Nächsten, zum Volk und zum Vaterland, Verständnis der Nöte fremder Völker, Überzeugung davon, daß es unmöglich ist, dem Wohl des eigenen Volkes mit Hilfe unmoralischer Mittel zu dienen.“ (VIII.3) Im Text weisen sie auf die Aporien der Unterscheidung von Angriffs- und Verteidigungskrieg hin. Dabei sei die Haltung der Kirche in jedem Einzelfall genau zu überprüfen. Als Handlungsorientierung der Kirche werden dabei folgende Kriterien hervorgehoben: „Die Methoden der Kriegsführung, ferner das Verhalten gegenüber Gefangenen und der friedlichen Bevölkerung des gegnerischen Staates, insbesondere Frauen, Kindern und alten Menschen.“ (VIII.3). In der FLW wird dagegen betont, dass die Orthodoxie keine Theorie des gerechten Krieges kennt (§46) die „ in advance, and under a set of abstract principles [seeks], to justify and morally endorse a state’s use of violence when a set of general criteria are met. Indeed, it could never refer to war as “holy” or “just.”“

Vierter zentraler Aspekt ist die Akzeptanz des Militärdienstes. In beiden Dokumenten wird der Kriegsdienst nicht verurteilt. In SD steht: „Die Haltung der Orthodoxie gegenüber den Kriegern, die um den Preis des eigenen Lebens das Leben sowie die Unversehrtheit ihrer Nächsten schützten, war zu allen Zeiten von größter Hochachtung geprägt. Viele Krieger wurden von der Kirche heiliggesprochen in Anerkennung ihrer christlichen Tugenden und das Wort Christi anwendend: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15.13).“ (VIII.2) Auch in der FLW wird darauf hingewiesen, dass die Kirche nie den Gläubigen den Militärdienst verboten hat: „military saints, often martyrs of the Church“ (§46). Kritisch ist hier anzumerken, dass beide Dokumente nicht Kriegsdienstverweigerung aus individueller Haltung thematisieren. Ansätze für eine Vertiefung dieses Aspektes finden sich allerdings in der FLW, indem herausgestellt wird, dass „Christian conscience must always reign supreme over the imperatives of national interest.“ (§46)

Soweit die Konvergenz in diesem Aspekt. Viel wichtiger sind hier die Differenzen und Besonderheiten in den Dokumenten. Wurden die „Krieger“ in SD als tugendhaft mit Verweis auf die Bibelstelle Joh 15:13 erklärt, deutet die FLW diese Stelle völlig anders: „This is a proclamation that directs our gaze first to the cross of Christ, which was a place primarily of surrender to violence and the refusal of retribution. As such, the cross is not in itself any kind of justification for the use of force in defense of oneself or others. It does, however, remind us that, when one must defend the innocent against the rapacious, the only proper Christian motivation for doing so is love.“ (§47) Unterschiedlich ist auch, dass in der FLW auf die Vätertradition hingewiesen wird, wonach die Soldaten, die jemanden im Krieg getötet haben von der Eucharistie auf Zeit fernbleiben und Buße durchführen sollten, da ihre „Hände nicht rein sind“ (Hl. Basilius). Die Besonderheit der SD liegt darin, dass hier die Militärseelsorge hervorgehoben wird, die zur „orthodoxen Tradition des Dienstes am Vaterland“ gehöre (VIII.4). Nach SD hat die Kirche „besondere Sorge für das Militär, indem sie sich bemüht, es im Geiste der Treue zu hohen sittlichen Idealen zu erziehen.“ Die Seelsorger werden als „Träger eines besonderen geistlichen Dienstes in der Armee“ betrachtet die „unermüdlich das Militär zu betreuen und für seinen sittlichen Zustand Sorge zu tragen [haben].“ Dieser Aspekt wird in der FLW dagegen nicht thematisiert. Die Besonderheit der FLW liegt darin, dass sie die Märtyrer für Frieden würdigt. 

Es zeigt sich eine tendenzielle Übereinstimmung in der Kriegskommunikation der Patriarchen in den jeweiligen Texten. An dieser Stelle zeigt sich die Relevanz des theologischen Referenzrahmen für die Kriegskommunikation der Patriarchen. Doch ist zu betonen, dass auch die SD Kriterien anbietet zur Verurteilung des aktuellen Krieges als Angriffskrieg (z.B. die Verhältnismäßigkeit der Methoden der Kriegsführung).

Fazit

Ich komme auf die am Anfang gestellten Fragen zurück. Wie ist die Haltung des Patriarchen zu verstehen und ist diese Haltung durch ein Fehlen von sozialethischen Reflexionen zu erklären? Die theoretischen Ansätze zur Hermeneutik religiös geprägter Gewalt, und v.a. der Konstruktivismus, bieten sich als hilfreiches Instrumentarium zum Verstehen der Haltung religiöser Akteure an. Diese sind Teil ihrer jeweiligen diskursiven Gemeinschaften und teilen i.d.R. die dominanten Frames ihrer eigenen „Lebenswelt“. Von Relevanz ist an dieser Stelle, dass Patriarch Kyrill I. das staatliche Narrativ der sogenannten „Entnazifizierung“ nicht übernommen hat. Zentral in der Kriegskommunikation des Patriarchen ist der nationale Mythos der Einigkeit durch das „Kiewer Taufbecken“.  In dem untersuchten Zeitraum wird die staatlich propagierte politische Ideologie der so genannten „russischen Welt“, die sich nicht auf den orthodoxen Kulturkreis beschränkt, weder erwähnt noch befürwortet. Vorschnelle Verurteilung zur Häresie, wie in der von den orthodoxen Theologen aus dem Westen in dem Text The Declaration on Russan World Teaching betrachte ich, nach den durchgeführten Analysen der Texte von Kyrill I. zum Krieg, als nicht zutreffend. Dagegen ist über die theologisch-religiöse Legitimierung der kriegerischen Gewalt, hervorzuheben, dass diese schlicht nicht akzeptabel ist. 

Die zentrale Mission der Orthodoxen Kirche ist nach ihren Selbstverständnis Friedensdienst. Sie ist zwar keine radikale pazifistische Kirche, doch hat sie „eine radikale Verpflichtung zum Frieden“. Dies veranschaulichen die sozialethischen Reflexionen in der orthodoxen Theologie, die entgegen der Behauptungen das sie nicht existieren würden, offensichtlich bereits vorgelegt wurden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die deutliche Verschiebung der Deutungen im Laufe der sozialethischen Diskussion. Es zeigt sich wie wichtig weiterführende Diskussionen waren und sind.

Allein vor dem Hintergrund dieser Dokumente die Kommunikation der kirchlichen Akteure im Krieg zu deuten, erscheint mir allerdings als eine unzulässige Simplifizierung, die dem Selbstverständnis der orthodoxen Kirchen vehement widerspricht. Für „die Orthodoxie“ und ihre Theologie ist die kirchliche, liturgische, spirituelle und asketische Erfahrung zentral. Dies veranschaulicht die Tatsache, dass auch ohne Existenz solcher Textformen sich zahlreiche orthodoxe Christen sowohl in der russisch-orthodoxen Kirche als auch weltweit für Frieden eingesetzt haben. So war die Stimme des serbischen Patriarchen Pavle während der postjugoslawischen Kriege eine prophetische Stimme, die immer wieder an die anthropologischen Fundamente der christlichen Orthodoxie erinnert hat, wonach jeder Mensch eine Ikone Gottes ist. Russisch-orthodoxe Kirche die durch die Geschichte „Schar der Märtyrer“, „Gewalterdulder“ und „Leidendulder“ vorgebracht hat, an ihre prophetische Stimme zu erinnern, scheint mir gelinde gesagt als Ausdruck einer triumphalistischen Arroganz unter den zerstrittenen orthodoxen Theologen, die die eigene Traditionen des Autoritarismus in den jeweiligen Lokalkirchen übersehen. Denn auch derzeit sind solche prophetischen Stimmen aus der russisch-orthodoxen Kirche selbst zu hören, wie dies der Friedensappell der Priester und Mönchen von Anfang des Krieges zeugt.

Für eine Logik des Friedens und gegen eine militärische Logik zu argumentieren in einer Phase der höchsten Stufe der eskalativen Kommunikationsmodus, wo Dämonisierung des Anderen „mit ganz anderer Andersheit“ (Sarasin) zur Normalität gehört, riskiert man es im besten Fall als naiv betrachtet zu werden (wie im Falle von ehemaligen EKD Ratsvorsitzenden Margot Käßmann). Und auch kirchliche Akteure, ja gar der Papst selbst, wurde für seine Dialog- und Friedensbemühungen fast unisono kritisiert. Wie der Ostkirchenexperte Bischof Johannes Schneider richtig bemerkte: „Auch im Westen ist der kriegerische Dualismus wieder da: Hier die Guten, da die Bösen. Die Kirchen müssen gerade im Krieg sagen: Den Feind lieben heißt nicht, ihn andere töten zu lassen, aber es heißt, auf ihn zuzugehen und ihm in die Augen zu sehen. Nur wenn ich im Feind das Antlitz Christi erkenne, nicht das des Teufels, bringe ich ihn von seinem Kriegshandwerk ab. Vielleicht. Es bleibt die dringende Aufgabe der Kirche einen Umgang auch zu einem „unliebsamen Nächsten“ zu finden. Friedensethische ökumenische Reflexionen sind heute daher von höchster Relevanz.