Bernd Oberdorfer  

Eigentlich vertritt der ÖRK im Blick auf kriegerische Gewaltanwendung eine klare Position. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, hatte schon die erste Vollversammlung 1948 nach den Schrecken des II. Weltkriegs proklamiert. Und eines der herausragenden Projekte des ÖRK im neuen Jahrhundert war die „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ (2001-10).

Doch im Blick auf den Ukraine-Konflikt sind die Handlungsoptionen des ÖRK durch eine komplexe Gemengelage präfiguriert:

  • Sowohl die Russisch-Orthodoxe Kirche als auch orthodoxe Kirchen aus der Ukraine sind Mitgliedskirchen des ÖRK; sie vertreten konträre Deutungen des Konflikts. Dies erschwert eine eindeutige Stellungnahme.
  • Zu den Hintergrundfaktoren des politisch-militärischen Konflikts gehört das tiefe Zerwürfnis, das das vom Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus 2018 offiziell anerkannte Begehren von Teilen der ukrainischen orthodoxen Kirche zur „Autokephalie“ unter Ablösung vom Moskauer Patriarchat in der Orthodoxen Gemeinschaft ausgelöst hat. Die innerorthodoxen Spannungen berühren auch die Arbeit im ÖRK, der sich bemüht, alle beteiligten orthodoxen Kirchen als Mitglieder zu behalten und ggf. auch wieder miteinander ins Gespräch zu bringen.
  • Die orthodoxen Kirchen sind seit 1948 (Ökumenisches Patriarchat) bzw. 1961 (Patriarchat von Moskau) Mitglieder im ÖRK. Seit langem beklagen sie sich aber über eine protestantisch-liberale, „westliche“ Dominanz in der Ausrichtung des ÖRK. In langen Gesprächsgängen ist es gelungen, prozedurale Regelungen der Gesprächsführung und Entscheidungsfindung zu entwickeln, die verhindern sollen, dass einzelne Kirchen oder Konfessionsfamilien den Eindruck gewinnen, im ÖRK einer ihnen fremden Frömmigkeitskultur und ekklesialen Handlungslogik unterworfen zu sein. Gleichwohl kommt ein Misstrauen orthodoxer Mitgliedskirchen gegen „westliche“ Muster im ÖRK immer wieder zum Ausdruck.

Für den Ukraine-Konflikt hat das zur Konsequenz, dass eine klare Verurteilung der russischen Aggression zumindest in der russischen Orthodoxie nicht bloß als Parteinahme für die Ukraine, sondern mehr noch als klarer Beleg für die religionskulturelle ‚Westbindung‘ des ÖRK gelesen werden kann.

Allerdings ist der derzeitige geschäftsführende Generalsekretär des ÖRK, der Rumäne Ioan Sauca, selbst orthodox. Das widerspricht einer rein „westlichen“ Ausrichtung des ÖRK. Freilich hat das Moskauer Patriarchat dem Ökumenischen Patriarchen vorgeworfen, mit der Anerkennung der Autokephalie der ukrainischen Orthodoxie seinerseits „westlichem“ Druck gefolgt zu sein. Die rumänisch-orthodoxe Kirche hat 2020 die Autokephalie der ukrainischen Kirche anerkannt, dabei aber dafür plädiert, für die schwierige innerkirchliche Lage in der Ukraine – neben der „autokephalen“ gibt es eine weiterhin moskautreue orthodoxe Kirche – die Verständigung mit dem Moskauer Patriarchat zu suchen und also die Spaltung nicht weiter zu vertiefen.

Interessant ist in diesem Licht der Briefwechsel zwischen Generalsekretär Sauca und Patriarch Kyrill nach Ausbruch des Krieges. Sauca schrieb Kyrill am 2. März mit der dringenden Bitte, angesichts des Leides der Bevölkerung in der Ukraine „zu intervenieren und bei den (politischen) Autoritäten zu vermitteln, um diesen Krieg, das Blutvergießen und das Leiden zu beenden, und Anstrengungen zu unternehmen, Frieden durch Dialog und Verhandlungen herbeizuführen“. 

In seiner Antwort vom 10. März unterstreicht der Patriarch zunächst die Bedeutung des ÖRK als Plattform für wechselseitige Solidarität zwischen den Mitgliedskirchen und skizziert sodann sein Narrativ der „dramatischen Entwicklungen in der Ukraine“: Der „Konflikt“ habe nicht erst jetzt begonnen. „Der Westen“ habe in den 1990er-Jahren seine Einflusssphäre absprachewidrig immer weiter Richtung Osten erweitert und dabei die Ukrainer instrumentalisiert, um sie von ihrem russischen „Brudervolk“ zu entfremden. Der russische Angriff erscheint so als Befreiung der Ukraine von einer kulturfremden Usurpation und als Wiederherstellung der ursprünglichen religiös-kulturellen Einheit von Ukraine und Russland. Erwähnt werden ebenfalls das „von Patriarch Bartholomäus 2018 erzeugte kirchliche Schisma“, die Opfer der Maidan-Unruhen 2014 – die doch auch der damalige ÖRK-Generalsekretär Olav Fykse Tweit warnend als Anzeichen eines neuen „kalten Krieges“ bezeichnet habe –, die Entwicklungen im Donbas, wo die dort lebenden Russen ihre ethnischen Rechte gegen Unterdrückung verteidigt hätten. Der „tragische Konflikt“ sei „Teil einer groß angelegten [westlichen] geopolitischen Strategie, die vor allem auf eine Schwächung Russlands abzielt“; die neuen westlichen Sanktionen erscheinen so als weitere Eskalation dieser Strategie. Verbindlich im Ton, aber drohend in der Sache artikuliert der Patriarch abschließend die „Hoffnung, dass der ÖRK auch in diesen herausfordernden Zeiten, wie schon in seiner ganzen Geschichte, eine Plattform für unvoreingenommenen Dialog bleiben kann, ohne politische Präferenzen und einseitige Zugänge“. Die Botschaft ist klar: Wenn sich der ÖRK offen gegen diesen Krieg erklärt, hat er sich „einseitig“ auf die Seite des „Westens“ geschlagen.

Für den ÖRK bedeutet das eine schwierige Gratwanderung: Einerseits hat er tatsächlich die Funktion einer „Plattform für unvoreingenommenen Dialog“ und kann helfen, Gesprächskanäle offen zu halten, auch für die Zeit nach dem militärischen Konflikt. Andererseits kann er gerade wegen seiner friedenstheologischen Tradition nicht unbegrenzt diplomatische Rücksicht bewahren und zu einem Krieg „neutral“ schweigen. Gelegentlich wird gefordert, die Russisch-Orthodoxe Kirche wegen ihrer offenkundigen Unterstützung des Krieges zu suspendieren. Dafür gibt es im ÖRK derzeit keine Hinweise. Nicht unmöglich ist es aber, dass die Russische Kirche selbst, konfrontiert mit kritischen Stimmen aus der Ökumene, dies zum Anlass nimmt, sich aus einer Organisation zurückzuziehen, die sie ohnehin chronisch als latent „westlich“-modernistisch kontaminiert wahrnimmt. 

*Dieser Text erscheint in: Werkner, Ines-Jacqueline et al. (Hrsg.): Krieg in der Ukraine. Hintergründe – Positionen – Reaktionen, Heidelberg: heiBOOKS, 2022 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 4).