Hans Diefenbacher

Aufgrund von Sanktionen und Gegensanktionen muss nicht, aber kann derzeit in Deutschland das Gas knapp werden.

Im Blick sind dabei besonders die knappe Hälfte der fast 43 Millionen Wohnungen in Deutschland, die 2021 mit Gas beheizt wurden. Knapp über 55 % des Erdgases stammten 2020 im Schnitt aus Russland, gefolgt von Norwegen mit 30,6 % und den Niederlanden mit 12,7 %. So ist in Deutschland unter anderem erneut eine Diskussion über Kernkraft entstanden. Gemäßigtere Varianten fordern eine Verlängerung der Restlaufzeit der drei verbliebenen Atomkraftwerke – Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 – im „Streckbetrieb“ über das zur Zeit gesetzlich festgelegte Ende von Dezember 2022 hinaus um mehrere Monate bis zu einem Jahr, entschiedenere Forderungen sprechen von deutlich längeren Fristen bis hin zu einem erneuten „Ausstieg aus dem Ausstieg“, was nur über den Neubau von Kernkraftwerken zu realisieren wäre.

Problematisch ist vor allem das Erdgas; Erdöl kann leichter ersetzt werden. Nun handelt es sich, von der Nachfrageseite betrachtet, damit bei Erdgas hauptsächlich um ein Wärme- und nicht um ein Stromproblem; dennoch:  Der Anteil von Erdgas an der Stromerzeugung lag im Jahr 2021 bei 12,6 %, nachdem er noch im Vorjahr bei 13,7 % gelegen hatte. Die Stromabsatzmenge an Letztverbraucher insgesamt hat sich nun zwischen 2010 und 2020 von 479 auf 419 Terrawattstunden verringert. Als Warnsignal für den kommenden Winter erscheint jedoch nicht zuletzt derzeit der stark steigende Absatz von elektrischen Heizlüftern, mit denen offenkundig die Bürgerinnen und Bürger Vorsorge treffen wollen, um steigende Gaspreise und eventuelle Versorgungsengpässe zu kompensieren. 

2021 entfielen 37 % des Erdgasabsatzes auf die Industrie, 31 % auf die Haushalte, 13 % auf Gewerbe, Handel und Dienstleistungen und 12 % auf die Stromproduktion einschließlich von Blockheizkraftwerken. Mit 0,2 % spielt der Verkehr eine nur marginale Rolle. 7 % des Erdgases ging in die Versorgung mit Fernwärme. Wie schwierig Aussagen über die Stromproduktion insgesamt auf der einen Seite und die Stromnachfrage auf dem Elektrizitätsmarkt andererseits zu treffen sind, zeigt die folgende Gegenüberstellung des Statistischen Bundesamts zur Außenbilanz;

„Die nach Deutschland importierte Strommenge stieg im Jahr 2021 im Vergleich zu 2020 um 7,7 %. Mit 51,7 Milliarden Kilowattstunden belief sie sich auf genau ein Zehntel der Inlandsproduktion. Wichtigster Stromlieferant war wie bereits in den Vorjahren Frankreich, obwohl die Stromimporte von dort im Vergleich zum Jahr 2020 um 24,7 % abnahmen. Die aus Deutschland exportierte Strommenge stieg gegenüber dem Vorjahr um 5,0 %. Mit 70,3 Milliarden Kilowattstunden oder 13,6 % des im Inland eingespeisten Stroms exportierte Deutschland weiterhin mehr Strom als es importierte. Stromimporte und -exporte können dabei ausschließlich für direkte Nachbarstaaten Deutschlands erfasst werden.“

https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/03/PD22_116_43312.html

Fassen wir zusammen: Mit 12 % des Erdgases, das 2021 in Deutschland verbraucht wurde, wurden 12,6 % der Stromproduktion erzeugt. Dabei wurden in Deutschland insgesamt 10 % der Stromproduktion importiert und gleichzeitig 13,6 % des im Inland eingespeisten Stroms exportiert.  Der Anteil der im Inland produzierten und ins Netz eingespeisten Kernenergie betrug im Jahre 2020 insgesamt 11,3 % der Stromerzeugung in Deutschland.

Soviel soll als grober Überblick zur Größenordnung des Problems und zur Dimension der neu diskutierten möglichen Alternative genügen. Beim Erdgas muss zunächst daran erinnert werden, dass mit Blick auf die anstehenden Veränderungen in Richtung auf eine klimaverträgliche Energieversorgung dieser Energieträger selbst als Brückentechnologie verstanden wurde, deren Verwendung bis spätestens zur Mitte des Jahrhunderts an ein Ende kommen sollte. Bei der Kernkraft wurde 2010 der Ausstieg erneut beschlossen, nachdem schon einmal die Laufzeit verlängert worden war, weil die große Katastrophe von Fukushima einmal mehr die Unbeherrschbarkeit und die unabsehbaren langfristigen Folgen einer großen Havarie vor Augen geführt hatte. Darüber hinaus ist die Frage der Endlagerung hochradioaktiver Abfälle nach wie vor weit entfernt von einer Lösung. 

Nachdem das Ende der Kernkraft im damals großen, die Parteien übergreifenden Konsens für Ende 2022 festgelegt war, hat sich auch die Branche darauf eingestellt. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz hat gemeinsam mit dem Bundesministerium für Wirtschaft bereits im Frühjahr 2022 geprüft, ob und welchen Beitrag eine Laufzeitverlängerung der drei verbliebenen AKW über den 31. Dezember 2022 hinaus noch leisten könnte. Ein wichtiges Ergebnis dieser Prüfung war, dass ein Weiterbetrieb nur dann erfolgen könnte, wenn Abstriche bei der Sicherheit in Kauf genommen würden.[2]

Eine Laufzeitverlängerung wäre jetzt nur mit intensiven neuen Sicherheitsüberprüfungen denkbar; die letzten wurden vor einigen Jahren durchgeführt, ihre Gültigkeit war auf das vorgesehene Ende der Laufzeit abgestimmt und sie fanden nach Standards statt, die aus heutiger Sicht als überaltert angesehen werden müssten. Gegebenenfalls müssten neue Brennstäbe beschafft werden. Die Arbeitsverträge der Beschäftigten kommen zum Ende der vorgesehenen Laufzeit teilweise an ihr Ende. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben zum Teil schon neue Anstellungen gefunden. Aber die organisatorischen und menschlichen Faktoren sind ganz entscheidend für die Sicherheit. Ein zusätzlicher Betrieb durch eine Laufzeitverlängerung würde daher ohne die Erkenntnisse aus einer neuen periodischen Sicherheitsüberprüfung stattfinden und würde daher ein nicht hinnehmbares Risiko darstellen.

Die Diskussion um die Kernkraft ist dabei in die Jahre gekommen; die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat 1990 unter der Überschrift „Energieeinsparung – Umrisse einer umweltgerechten Politik im Angesicht der Klimagefährdung“ einen Text vorgelegt, der auch heute noch uneingeschränkt gültig und auch aktuell ist:[3]

„Bei der Kernenergie handelt es sich um eine Technik, die fast völlige Fehlerlosigkeit des Menschen voraussetzt. Zu unserem Menschsein gehört aber, daß wir Fehler machen. Die Einsicht nimmt zu, daß wir dieser Technik nicht gewachsen sind. In der Diskussion um Energieträger wird Kernenergie als ökologisch verträgliche Energieform der Zukunft benannt. Da aber

・die Probleme der Sicherheit nicht gelöst sind und Unfälle zu radioaktiver Verseuchung riesiger, dicht besiedelter Gebiete führen können,

・die Menschheit den Krieg nicht überwunden hat und deshalb Atom-Anlagen zu militärischen Angriffszielen werden können,

・die Nähe zur Waffenproduktion äußerste Wachsamkeit beansprucht,

・ein zufriedenstellendes Konzept der Entsorgung noch nicht vorliegt (und sogar fraglich ist, ob ein solches Konzept jemals gefunden werden wird),

・die Großtechnologie „Kernenergie“ in riesigem Umfang Mittel bindet, die für andere gesellschaftlich sinnvolle Aufgaben nicht mehr zur Verfügung stehen,

・Menschen bereits heute durch Kernenergie gesundheitlich geschädigt und viele ständig gefährdet sind,“

wurde schon damals eine Ablösung der Kernenergie bevorzugt.

Der obige Text stammt aus einem Forum zu „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) e.V., das im Rahmen des „konziliaren Prozesses gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ in Stuttgart im Oktober 1988 getagt hatte. Die damals gestellten Anfragen haben sich weitgehend auch nach 34 Jahren nicht erledigt: Sicherheitsprobleme beim Weiterbetrieb veralteter Anlagen und ungelöste Endlagerung vor allem sind nach wie vor die Punkte, den Beschluss zum Ausstieg zu Ende des Jahres 2022 beizubehalten.

Summa summarum: Die allenfalls geringfügigen Entlastungen, die auf dem Energiemarkt zu erwarten wären, würden die Risiken, die ein Weiterbetreiben der Anlagen mit sich bringen würde, nicht wettmachen. Überall dort, wo die Anteilswerte etwas über 10 % liegen, lassen sich Substitute finden – schwierig wird es beim hohen Anteil der mit Gas beheizten Wohnungen. Eine zielgerichtete, an sozialen Kriterien orientierte Unterstützung entsprechender Zielgruppen und ein möglichst rascher Ausbau erneuerbarer Energien ist aber dem Eingehen letztlich unkalkulierbarer Risiken wie der Atomkraft vorzuziehen. 


[1] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/03/PD22_116_43312.html

[2] https://www.bmuv.de/themen/atomenergie-strahlenschutz/nukleare-sicherheit/faq-akw-laufzeitverlaengerung

[3] https://www.ekd.de/energie_1990_ernergie2.html